Der Historiker Klaus Große Kracht würdigt seinen tödlich verunglückten Kollegen Thomas Großbölting: „Er hat Räume des Sagbaren eröffnet.“
Nachruf auf Historiker Großbölting„Er schrieb Geschichte für die Mitlebenden“

Professor Thomas Großbölting (links) und sein Kollege Klaus Große Kracht stellen im Juni 2022 die Ergebnisse ihrer Studie zum sexuellen Missbrauch im Bistum Münster vor. Großbölting starb am 11. Februar bei einem Zugunglück.
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Am 11. Februar war Thomas Großbölting auf dem Weg von Hamburg nach Köln, zur Talkreihe „frank&frei“ des „Kölner Stadt-Anzeiger“. Joachim Frank, Chefkorrespondent dieser Zeitung, hat über die beklemmenden Minuten und Stunden, in denen seine Gäste und er auf den Hamburger Historiker warteten, berichtet. Thomas Großbölting kam in Köln nicht an. Er starb bei einem Zugunglück in der Nähe von Hamburg.
„Zeitgeschichte“, so lautet eine bekannte Definition, „ist die Epoche der Mitlebenden“. Thomas Großbölting hat sie nicht nur erforscht und dargestellt, sondern auch selbst gelebt. Forschen und schreiben, reden und reisen, organisieren und Pläne schmieden gingen bei ihm Hand in Hand. Er schrieb Geschichte für seine Mitlebenden in unsicheren Zeiten.
Sein eigenes Leben spiegelt sich in seinen Veröffentlichungen wider. 1969 in der Nähe von Bocholt im westlichen Münsterland geboren, studierte er an der nahe gelegenen Universität Münster Geschichte, katholische Theologie und Germanistik, mit Abstechern nach Köln, Bonn und Rom. Schon seine Abschlussarbeit, in der er sich mit katholischen Reformdebatten nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 bis 1965) beschäftigte, wies in die Richtung seiner späteren religionshistorischen Arbeiten, darunter seine weit bekannte Darstellung der Religionsentwicklung in Deutschland seit 1945 mit dem markanten Titel „Der verlorene Himmel“.
Thomas Großbölting hat Räume des Sagbaren eröffnet.
Thomas Großbölting beschrieb die Kirchen nicht von oben, sondern aus der Sicht ihrer Mitglieder. In den letzten Jahren waren das insbesondere diejenigen, die vom Missbrauch klerikaler Macht betroffen waren. Mit seinen Studien zum sexuellen Missbrauch im Bistum Münster, seiner Mitarbeit an der „Forum“-Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sowie seinem Bestseller „Die schuldigen Hirten“ aus dem Jahr 2022 hat er Räume des Sagbaren für Betroffene sexualisierter Gewalt eröffnet, die ihnen zuvor jahrzehntelang verschlossen waren. Thomas Großbölting hat gezeigt, was zeitgeschichtliche Aufarbeitung zu leisten vermag.
„Aufarbeitung“ war ein zentrales Anliegen seiner wissenschaftlichen Arbeit. 1989 – ein Jahr nach seinem Abitur – erlebte er den Fall der Mauer, den Zusammenbruch des SED-Unrechtsstaates. Er fand damit ein weiteres großes Arbeitsgebiet, die Geschichte der DDR und des wiedervereinigten Deutschlands. Davon zeugt bereits seine Dissertation aus dem Jahr 1998 über die Geschichte des Bürgertums in Magdeburg und Halle zur Zeit der DDR, eingereicht an der Universität Münster. Eine Arbeit über Industrie- und Gewerbeausstellungen im 19. Jahrhundert schloss sich an, mit der er sich im Jahr 2004 am gleichen Ort habilitierte.
Er erlebte die Aufarbeitung des SED-Unrechts hautnah.
Großbölting arbeitete damals als wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Münster. Ausgewiesen als junger Spezialist für die DDR-Geschichte ging er kurze Zeit später, im Jahr 2005, nach Berlin, wo er die Leitung der Abteilung für Bildung und Forschung bei der damaligen Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) übernahm. Hier erlebte er die Aufarbeitung des SED-Unrechts hautnah. Sein späteres Buch über die „Wiedervereinigungsgesellschaft. Aufbruch und Entgrenzung in Deutschland seit 1990“, veröffentlicht im Jahr 2020, erscheint heute wie ein spätes Resümee seiner Forschungen auf diesem Gebiet.
Als das Buch erschien, lehrte und forschte Großbölting bereits an der Universität Hamburg. Es war die dritte Station seiner Laufbahn als Hochschullehrer, die 2007 mit einem Ruf an die Universität Magdeburg begonnen hatte, ihn aber schon bald – über einen Umweg nach Toronto, wo er das akademische Jahr 2008/09 verbrachte – zurück nach Münster führte. Hier übernahm er den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte seines Doktorvaters Hans-Ulrich Thamer. In seinen Jahren an der Westfälischen Wilhelms-Universität, wie sie damals noch hieß, entfaltete sich Großbölting als akademischer Lehrer, wissenschaftlicher Projektleiter und klug-sensibler Moderator in zahlreichen Gremien, Forschungsinstituten und interdisziplinären Verbünden.
Stillhalten war nicht sein Metier.
Ebenfalls in dieser Zeit entstanden die erwähnten religionshistorischen Bücher sowie eine beachtliche Anzahl von Sammelwerken, an denen er als Mitherausgeber beteiligt war. Zugleich fand er immer wieder die Zeit auch für kleinere Forschungsarbeiten, etwa zur Geschichte der nahe Ludwigsburg gelegenen Stadt Kornwestheim im Dritten Reich oder zu den Umbrüchen in der Region Westfalen im Jahr der Studentenunruhen 1968.
Thomas Großbölting liebte die Veränderung, Stillhalten war nicht sein Metier. 2020 – mitten in der Corona-Pandemie – nahm er einen Ruf an die Universität Hamburg an, verbunden mit der Direktorenstelle der dortigen Forschungsstelle für Zeitgeschichte (FZH). Auch hier entfaltete er in den letzten fünf Jahren ein enormes Spektrum an wissenschaftlichen Aktivitäten. Zu seinen bekannten und langjährigen Forschungsschwerpunkten kamen mit der Stadtgeschichte, der Migrationsgeschichte und der Erforschung des Rechtsextremismus neue Themen hinzu, die seine Neugier entfachten. Als Gründungsmitglied der Aufarbeitungskommission im Bistum Münster beteiligte er sich aber auch weiterhin an der historischen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche. Noch vor kurzem hatte er ein Projekt zu den Missbrauchsvorwürfen gegen den 1991 verstorbenen Bischof von Essen, Kardinal Franz Hengsbach, gestartet.
Thomas Großböltings Stimme wird uns fehlen.
Das alles unter einen Hut zu bringen, zugleich die Verantwortung für das Archiv, die Bibliothek und eine stattliche Anzahl von Mitarbeitenden an der Hamburger Forschungsstelle zu übernehmen, ohne jemals einen gehetzten Eindruck zu hinterlassen, war beeindruckend und wird die Erinnerung an ihn prägen.
In seinem Buch zur Wiedervereinigungsgesellschaft schrieb er über die Aufgabe der Zeitgeschichte, dass diese nicht von ihren Anfängen, sondern von den Problemen der Gegenwart her betrachtet werden müsse. Da die Gegenwart aber zur Zukunft hin offen ist, muss auch die zeitgeschichtliche Forschung offen sein für die Möglichkeitsräume vergangener Zeiten. Sie kann keine abschließenden Urteile fällen, sondern hat das Gespräch über alternative Einordnungen und Deutungen anzuregen – „nicht zuletzt um auf diese Weise die Suggestion des ‚there is no alternative‘ zu widerlegen“, so zu lesen in Großböltings Einleitung zu diesem Buch.
Gerade heute, in einer Zeit, in der die Verunsicherung um sich greift und Handlungsspielräume der gesellschaftlichen und politischen Gestaltung immer enger zu werden drohen, wird uns die Stimme von Thomas Großbölting fehlen. Er hinterlässt eine Frau und vier Kinder.
Klaus Große Kracht
Der Autor, geb. 1969, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) und lehrt als Professor Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Er ist ein langjähriger Kollege, Weggefährte und Freund des verstorbenen Thomas Großbölting. Gemeinsam mit ihm verantwortete Große Kracht eine vom Bistum Münster in Auftrag gegebene Studie zum sexuellen Missbrauch in diesem Bistum, die 2022 veröffentlicht wurde. (jf)