Der Historiker Thomas Großbölting sieht eine „nonchalante Machtvergessenheit“ in der evangelischen Kirche als begünstigenden Faktor für sexualisierte Gewalt.
EKD-Missbrauchsstudie„Die Ähnlichkeiten in beiden Kirchen sind frappierend“
Herr Professor Großbölting, Sie waren vor der Forum-Studie der EKD schon führend an einer ähnlichen Arbeit für das katholische Bistum Münster beteiligt. Sind für Sie nach den Ergebnissen noch entscheidende Unterschiede der Kirchen im Umgang mit sexualisierter Gewalt erkennbar?
Thomas Großbölting: Die Idee verschiedener konfessioneller „Kulturen“ hat sich mit der Vorlage der Forum-Studie am heutigen Tag erledigt. Vorbei ist es auch mit dem selbst entschuldigenden Narrativ der evangelischen Kirche, dass Demokratie, Partizipation, föderale Strukturen dem Missbrauch entgegengewirkt hätten. Ich muss im Gegenteil sagen: Die Ähnlichkeiten in beiden Kirchen sind frappierend.
Müssen Sie dann nicht Ihre eigenen Forschungsbefunde revidieren, wonach Missbrauch in der katholischen Kirche wesentlich mit Klerikalismus, männerbündischen Strukturen dem Verständnis vom Weiheamt und anderen „typisch katholischen“ Ideen zu tun hat?
Diese Faktoren bleiben gravierend. Neu ist jetzt die Erkenntnis, dass in beiden Kirchen über allem der „religiöse Experte“, die geistliche Leitungsfigur steht. Ihr wird eine besondere Autorität zugeschrieben, eine eigene geistliche Macht – mit der Versuchung, diese auszunutzen. Da ist es dann schon schnuppe, ob man es mit einem geweihten katholischen Priester oder einem ordinierten lutherischen Pfarrer zu tun hat. Unter diesem Plateau, auf dem sich beide Kirchen gemeinsam bewegen, gibt es dann aber schon spezifische Phänomene. Für die evangelische Kirche macht die Forum-Studie eine gewisse nonchalante Machtvergessenheit aus samt einer organisierten Verantwortungslosigkeit. Niemand weiß am Ende, wer wofür zuständig und verantwortlich ist. Das begünstigt Machtmissbrauch in hohem Maße. Ein zweites Spezifikum ist die Vorstellung einer evangelischen Geschwisterlichkeit, in der so etwas wie sexualisierte Gewalt denklogisch keinen Platz haben darf. Missbrauchsopfer stören da nur die schöne Harmonie.
Was hilft dann gegen sexuellen Missbrauch?
Beide Kirchen werden sich Gedanken darüber machen müssen, wie sie die Machtstrukturen aufbrechen können, die über die Religionsausübung etabliert werden. Meines Erachtens müssten sie demgegenüber die individuelle Autonomie der Gläubigen viel stärker in den Blick nehmen.
Aber das ist doch das protestantische Credo seit Martin Luther: Ich und mein Gott – und sonst gar nichts.
Sicher. Aber in der pastoralen Praxis, speziell auch in der Jugendarbeit als einem in der evangelischen Kirche besonders prekären Feld in puncto sexuellem Missbrauch, wurde dieses Bekenntnis zum religiösen Individuum nicht so gelebt. Da wurde dann doch Pfarrer oder Pastor als religiöser Experte über den einzelnen Gläubigen, die einzelne Gläubige gestellt. Und damit klafft zwischen Anspruch und Wirklichkeit eine riesige Lücke.
Wenn – wie Sie sagen – Demokratie, Partizipation und föderale Strukturen Missbrauch auch nicht wirksam verhindern konnten, scheint es mit dem vielfach betonten Prinzip der „checks and balances“ auch nicht so weit her zu sein. Irritiert Sie das?
Ich stelle zunächst einmal fest, dass es mit diesen wichtigen und richtigen Prinzipien in der Lebenswirklichkeit der Gemeinden nicht allzu weit her war. Zudem muss man sagen, dass es ein echtes System von „checks and balances“ für den Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche auch erst seit 2018/19 gibt.
Ist der Veränderungsbedarf bei den Verantwortlichen der EKD angekommen? Angesichts des noch in der Präsentation der Studie offenbar gewordenen Hickhacks um die Bereitstellung von Akten oder auch angesichts der bis heute geführten Klage von Betroffenen über das Verhalten der evangelischen Kirchenleitungen könnte man daran zweifeln.
Das ist für mich schwer einzuschätzen. Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs hat bei der Präsentation der Studie überzeugend vertreten können, dass ihr an Aufarbeitung und Veränderung gelegen ist. Aber damit ist noch nichts gewonnen. Ich möchte ihr das ehrliche Bemühen um Veränderung glauben. Aber ich höre eben auch, dass die Betroffenen mit ihrem Einsatz über die Jahre hin nur wenig erreicht haben.
Spricht all das nicht umso mehr für eine externe Aufarbeitung?
Der Ärger um die Bereitstellung der Akten hat gezeigt: Es gibt eine Mischung aus Unwillen und Strukturen, die eine umfassende Aufarbeitung durch die Institutionen selbst behindern, wenn nicht verhindern. Von daher scheint mir ein stärkeres staatliches Engagement mehr denn je vonnöten.
Thomas Großbölting, geb. 1969, ist Professor für Neuere Geschichte/Zeitgeschichte an der Universität Hamburg und dort Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte. 2022 erschien von ihm im Verlag Herder das Buch „Die schuldigen Hirten. Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche“. (jf)