Die Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche offenbart, wie Selbstbilder und Strukturen im Protestantismus sexualisierte Gewalt begünstigt haben.
Missbrauchsstudie der EKDDas Ende des Märchens einer besseren Kirche
Es war einmal. Es war einmal die Mär von einer besseren Kirche – den Menschen zugewandt, transparent, fortschrittlich und machtsensibel. Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen? Nicht unser Problem, nicht das Problem der evangelischen Kirche! Einzelfälle, ja, die hat es gewiss gegeben – wie überall in der Gesellschaft. Aber ohne Zölibat, ohne den klerikalen Machtkomplex der Katholiken sind wir Protestanten doch fein raus.
Dieses von führenden Köpfen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ihrer Landeskirchen gepflegte und vielleicht sogar von ihnen selbst, ganz bestimmt aber von den meisten anderen – innerhalb und außerhalb der Kirche - verinnerlichte Bild ist mit der Vorlage der großen „Forum-Studie“ in tausend Stücke zerborsten.
Desaströser Tag für die Kirche
Der 25. Januar 2024 ist ein desaströser Tag für die Kirche – mit Ansage. Schon lange hätte allen Beteiligten klar sein können und müssen, dass Täterstrategien, Methoden der Vertuschung, Wegschauen und Herunterreden, Institutionenschutz und Empathielosigkeit im Umgang mit den Betroffenen weitgehend identisch sind mit dem, was seit 2010 in der katholischen Kirche aus dem Dunkel der bischöflichen Archive ans Licht kam.
Aber galten denn nicht die fraglos vorhandenen katholischen Eigenheiten – wie eben die Ehelosigkeit der Priester, die teils ins Groteske gehende spirituelle Überhöhung des geistlichen Amts, das Fehlen von Frauen in den kirchlichen Führungsriegen und eine lebensfremde, verquere Sexualmoral – als „die“ begünstigenden Faktoren für Missbrauch? Treten die reformorientierten Kräfte in der katholischen Kirche denn nicht an mit dem Ruf nach Veränderungen in genau diesen Problemfeldern, um das Missbrauchsrisiko zu minimieren?
Keine Programmschrift für eine Ökumene der Häme
Es wäre völlig falsch, aus den Ergebnissen der Forum-Studie die Sinnlosigkeit oder Fehlorientierung solcher Bemühungen zu folgern. Jede Institution, jede Organisation muss bei sich selbst aufräumen, die eigenen blinden Flecken aufdecken, sich von den eigenen Lebenslügen verabschieden.
Die Forum-Studie benennt unter anderem die „protestantische Vielfalt“, ein eigenes Fluidum des evangelischen Pastorenamts sowie das Pfarrhaus als Ermöglichungsraum für sexualisierte Gewalt und Schutzraum für Täter.
In Anbetracht dessen ist die Forum-Studie auch keine Programmschrift für eine Ökumene der Häme oder der konfessionellen Selbstentlastung nach dem Motto: „Die also auch!“
Einfallstor für sexuellen Missbrauch
Als die „Frankfurter Rundschau“ im Jahr 2010, kurz nach dem Anrollen der Skandalwelle in der katholischen Kirche, auch den Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule offenlegte, galt das dem einen oder anderen Kirchenmann als willkommenes Entlastungsmanöver von unerwarteter Seite, nämlich „von links“.
Tatsächlich hätten die Enthüllungen der Verbrechen an Kindern und Jugendlichen im Raum der Kirche ebenso wie im Vorzeige-Institut der „Reformpädagogik“ zu einer gemeinsamen Erkenntnis führen können: Die Vorstellung einer überlegenen Weltanschauung, die – ob religiös oder säkulär – immun ist gegen Missbrauch von Macht, ist selbst schon das Einfallstor für eben diesen Missbrauch.
Unbegreifliches Gezauder
Für die evangelische Kirche dokumentiert die Forum-Studie nun auf erschreckende Weise, dass genau diese Ideologie-Kritik kaum stattgefunden hat. Unbegreiflich sind das Gezauder, das Hinhalten, die eklatanten Mängel in der Kooperation mit den Forschenden bei der Erhebung einigermaßen gesicherter Fallzahlen. Das lässt an der Ernsthaftigkeit des Aufklärungswillens insgesamt zweifeln und entwertet so das Projekt im Hinblick auf die kirchliche Außenkommunikation.
Es ist, als hätten die Verantwortlichen in der EKD und den Landeskirchen in mehr als zehn Jahren nichts, gar nichts gelernt aus den Fehlern und dem Versagen in der katholischen Schwesterkirche. Dass sich dort bei manchen das Narrativ des von allen geprügelten Sündenbocks einnistete, ist sogar verständlich, wenn man zum Beispiel an das anhaltende Widerstreben der Sportverbände denkt, sich dem Missbrauchskomplex mit all seinen Folgen zu stellen, die Entschädigung der Opfer eingeschlossen.
Es gibt keinen gesellschaftlichen Raum ohne Missbrauch
Schlimm ist das vor allem für die Betroffenen sexualisierter Gewalt, die wieder und wieder vor dieselben Mauern rennen, in die gleichen institutionellen Tretmühlen geraten, die gleichen Retraumatisierungen erfahren müssen.
Die entscheidende Schwierigkeit für die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in Institutionen und Organisationen ist das Fehlen eines archimedischen Punkts, an dem man „von außen“ den Hebel ansetzen könnte. Es gibt nämlich keinen Ort, keinen gesellschaftlichen Raum, kein soziales System ohne Missbrauch. Insofern ist auch der oftmals abwiegelnd gemeinte Hinweis triftig, dass die Mehrzahl der sexuellen Vergehen an Kindern und Jugendlichen im familiären Kontext stattfinden.
Kirchliche Selbstverteidigung anstelle der entwaffnenden „Logik Jesu“
Wie jetzt auch die Forum-Studie zeigt, muss sich der Wille immer wieder zu ehrlicher, umfassender Aufarbeitung gegen starke, bisweilen übermächtige Widerstände und Vorbehalte Bahn brechen. Das gilt auch und gerade für die Kirchen. Selbstverteidigung war dort an die Stelle jener entwaffnenden „Logik Jesu“ getreten, die von den Schwachen, den Notleidenden, den Hilfsbedürftigen her denkt. Nach der Forum-Studie bleiben Zweifel, ob dieser not-wendige Perspektivwechsel inzwischen wirklich vollzogen ist.
Aufklärung und Aufarbeitung, auch das macht die Forum-Studie deutlich, können nur mit einem festen, verbindlichen, überprüfbaren Reglement und mit gemeinsamen Standards gelingen. Werden etwa die Instrumente des Rechtsstaats konsequent im Interesse der Wahrheit und der Gerechtigkeit für die Opfer angewandt, kann schon viel gewonnen sein, wie der Kölner Strafprozess gegen den Serientäter und Ex-Priester Hans Ue. exemplarisch bewiesen hat.
So muss die Forum-Studie erneut Anstoß sein, die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs und eine bestmögliche Prävention auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen. Die Institutionen der Täter und Vertuscher können es nicht – noch nicht einmal mit Gottes Hilfe.