AboAbonnieren

Wegen Totschlags gesuchtKnapp 300 Täter laufen in NRW immer noch frei herum

Lesezeit 5 Minuten
Neuer Inhalt (4)

Erkan A, wurde nach seiner Flucht in Izmir gefasst.

Düsseldorf – Kushtrim P. flehte um sein Leben. „Bitte nicht schießen, bitte nicht schießen !“, bat der nächtliche Besucher der Kölner Kneipe „No Name“. Doch Hells-Angels-Chef Erkan A., so legen es die Ermittlungen nahe, nahm die Pistole, hielt den Lauf auf die Brust des Kosovaren und drückte ab. Tödlich getroffen sackte der 29 Jahre alte Kleinkriminelle zusammen, zwei weitere Landsleute wurden durch Schüsse der Rockergang schwerverletzt.

Bei dem Überfall handelte es sich um eine Strafaktion. Die Opfer hatten in der Nacht zum 20. November 2015 Spielautomaten mit Geldkassetten aus einer Shisha-Bar gestohlen, die einem führenden Mitglied des Kölner Charters „Hells Angels MC C-Town“ gehörte. Bereits tags darauf flüchtete der mutmaßliche Schütze mit einem seiner Komplizen in die Türkei.

Erkan A. sitzt inzwischen in Abschiebehaft

Seither waren beide Deutsch-Türken per internationalem Haftbefehl wegen Totschlags zur weltweiten Fahndung ausgeschrieben. Allein die türkischen Behörden lieferten die Tatverdächtigen nicht aus. Das könnte sich zumindest im Fall des gesuchten Todessschützen nun ändern: Wie Kölns Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ bestätigte, sitzt Erkan A. inzwischen in Abschiebehaft.

Vergangenes Jahr hatten türkische Sicherheitskräfte den ehemaligen Rocker-Chef festgesetzt, weil er von Izmir aus über ein Callcenter alte Menschen in Deutschland als falscher Polizist hereingelegt haben soll. Bei der Festnahmeaktion schoss die Polizei dem fliehenden Erkan A. in beide Beine. Wann der Gesuchte nach Köln überstellt werde, sei noch unklar, sagte Bremer.

298 Haftbefehle wegen Totschlags offen

Der Fall taucht in der Fahndungsstatistik als einer von 298 offenen Haftbefehlen wegen Totschlags in NRW auf. Solange Erkan A. nicht an die NRW-Behörden übergeben wurde, ändert sich auch nichts daran.

Bei der vergangenen Sitzung im Rechtsausschuss legten Justiz- und Innenministerium einen Bericht vor. Demnach seien insgesamt gut 24.000 Haftbefehle offen. Drei Viertel betreffen Delinquenten, die nach ihrer Verurteilung ihre Strafe nicht angetreten haben. Mit inbegriffen sind auch jene, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen, weil sie Geldbußen nicht beglichen haben.

Auch ein Serienmörder ist auf freiem Fuß

Weitaus brisanter sieht es im Bereich Kapitalverbrechen aus: Derzeit fahndet die NRW-Polizei nach 306 Mördern. Darunter etwa der Serienmörder Norman Franz, 51, aus Dortmund. Seit 22 verfolgen Zielfahnder des Landeskriminalamts NRW vergeblich die Spur des Gewaltverbrechers. 1995 jagte der Westfale nach einer Auseinandersetzung zwei polnische Lieferanten illegaler Zigaretten mit einer Handgranate in die Luft, einem von ihnen schoss er in den Kopf.

Nach seiner Festnahme und Verurteilung sägte er ein Zellengitter der JVA Hagen durch und suchte mit seiner damaligen Freundin das Weite. Bei einem Überfall auf einen Geldtransporter im thüringischen Weimar tötete er den Wachmann. In Portugal verhaftet, gelang ihm erneut die Flucht. Seither sucht ihn das LKA weltweit.

Opposition kritisiert die Landesregierung

Der Report über freilaufende Mörder und Totschläger hat die SPD-Opposition auf den Plan gerufen. „Die jetzt durch das Justizministerium vorgelegten Zahlen der offenen Haftbefehle wegen Mordes und wegen Totschlags sind erschreckend“, monierte die SPD-Rechtsexpertin Sonja Bongers, „in den vergangenen zwölf Monaten blieb ihre Zahl nahezu konstant hoch. Was der Minister in dieser Zeit unternommen hat, die Menschen in NRW vor fast 600 wegen Mordes oder wegen Totschlags gesuchten Personen zu schützen, wollen wir uns im Rechtsausschuss von ihm erklären lassen.“

Recherchen dieser Zeitung legen allerdings nahe, dass sich die meisten dieser Kriminellen im Ausland befinden. So wertete das Landeskriminalamt NRW 2019 die damals offenen Fahndungsausschreibungen im Zusammenhang mit Tötungsdelikten aus. In 87 Prozent der Fälle wurden die Täter nach einem Teil der verbüßten Strafe in ihr Herkunftsland abgeschoben, berichtete ein Sprecher des Innenministeriums. Nach wie vor bleibt der Haftbefehl jedoch weiter bestehen, um ihre Wiedereinreise zu verhindern.

Das gilt auch für einstige Unterweltgrößen. So muss der ehemalige Rotlichtpate von Köln, Coskun Necati Arabaci, mit seiner Festnahme rechnen, sollte er aus der Türkei wieder einreisen. Arabaci, inzwischen als Chef der türkischen Hells Angels eine große Nummer im internationalen Rocker-Milieu, galt auch als Kontaktmann der flüchtigen Männer, die in der Kölner Kneipe „No Name“ einen Menschen erschossen haben sollen.

SPD: Aussitzen sei keine Option

Die SPD-Landtagsabgeordnete Bongers kritisierte, dass man die hohe Zahl der offenen Haftbefehle nicht als gegeben hinnehmen könne. Auch in den letzten Monaten des scheidenden Justizministers Peter Biesenbach (CDU) sei „ein Aussitzen keine Option“.

Allerdings lag die Quote der offenen Haftbefehle im letzten Jahr der rot-grünen Landesregierung 2016 nach Informationen aus Sicherheitskreisen um gut 4000 Fälle höher als unter dem Nachfolgerkabinett. Vor dem Hintergrund wertet der CDU-Parlamentarier Jörg Geerlings die Oppositionsschelte als „vorgezogenes Wahlkampfgetöse mit einer völlig verqueren Sicht der Dinge. Wer wie die SPD im Glashaus sitzt, sollte vorsichtig sein, mit Steinen zu werfen“.

98 Neonazis mit offenem Haftbefehl

Auch im Politstreit um die Fahndung nach Rechtsextremisten bestehen Fragezeichen. Die SPD zeigte sich besorgt über die Zahl von 98 Personen mit 125 offenen Haftbefehlen in diesem Spektrum. Sechs Jahre zuvor waren es noch 85. Wie diese Zeitung erfuhr, sind diese Neo-Nazis größtenteils wegen anderer Kriminaldelikte abgetaucht. Nur 18 Fahndungen gehen auf eine politisch motivierte Straftat zurück. Ferner suchen die NRW-Behörden elf Linksextremisten mit offenem Haftbefehl.

Das könnte Sie auch interessieren:

Nach wie vor fahnden die NRW-Staatsschützer auch nach 37 militanten Islamisten, die sich vermutlich überwiegend noch in den Krisenregionen Syriens befinden. So etwa nach dem Bonner Fared Saal, der an einem Massaker nach einem Angriff der Terrormiliz „Islamischer Staat“ auf ein Gasfeld in der syrischen Stadt Homs auf einem Haufen Leichen vor laufender Kamera posiert. „Wir haben die Schweine geschlachtet“, bekannte der Terrorist höhnisch. Inzwischen sitzt der Deutsch-Algerier, Kampfname „Abu Luqmaan al-Almani", in einem kurdischen Gefangenenlager. Sein Schicksal ist aktuell ungewiss.