Pflege kranker AngehörigerFirmen können betroffenen Mitarbeitern helfen
Köln/Hattingen – Irgendwann geht es nicht mehr. „Jemand, der das noch nie erfahren hat, weiß nicht, was über einen hereinbricht.“ Anne Ludwig (Name geändert) ist 55 Jahre alt und arbeitet Vollzeit in der Zentrale einer Immobilienfirma, als ihre Mutter schwer an Krebs erkrankt. Sie braucht Pflege. Bald schon rund um die Uhr.
Ludwig muss sich jetzt absprechen, mit ihren Geschwistern, mit dem Pflegedienst, den Ärzten. Sie muss für die Mutter einkaufen, aufräumen, waschen, kochen, da sein und manchmal da bleiben. Außerdem muss sie arbeiten – am besten wie immer.
Weil Anna Ludwig ihren studierenden Sohn finanziell unterstützt, will sie nicht kürzer treten. Monatelang habe sie versucht, das alles zusammenzuhalten. Sie spricht von einem Korsett aus Verpflichtungen, das sie einschnürt, bis ihr die Luft ausbleibt. Irgendwann geht es nicht mehr.
Was dann folgt, ist bis heute in der Arbeitswelt eher eine Ausnahme: Ludwig wagt einen Schritt nach vorne, wie sie sagt, und spricht mit der Personalreferentin in ihrem Betrieb. Die habe sie in den Arm genommen und beruhigt: „Egal, was ist, wir unterstützen dich.“
Firma legt Wert auf soziales Miteinander
Anna Ludwig hat das Glück, in einer Firma zu arbeiten, die nach eigenen Angaben großen Wert auf eine soziale Unternehmenskultur legt. Die HWG in Hattingen beschäftigt 60 Mitarbeiter, die beim Vorstand offenbar auf ein besonderes Maß an Menschlichkeit treffen. „Wir arbeiten daran, dass jeder stolz darauf sein kann, ein Teil des Teams zu sein“, lautet der hohe Anspruch von Vorständin Erika Müller-Finkenstein. Das heißt, dass man sich manchmal auch für die privaten Nöte öffnen müsse.
Zu wissen, welche das konkret sein könnten, war ihr selbst aber nicht immer klar. Sie musste sich erst belehren lassen. Ungefähr zeitgleich mit dem Schicksalsschlag ihrer Mitarbeiterin wurde das Unternehmen durch die Kampagne „Arbeiten, Pflegen, Leben“ auf ein für die Chefin bislang unsichtbares Problem gestoßen.
Derzeit geht die Bundesregierung von 4,8 Millionen Menschen aus, die einen Angehörigen in unterschiedlichem Umfang pflegen. Rund 2,5 Millionen der Pflegenden sind erwerbstätig – Tendenz steigend. Beruf und Pflege miteinander vereinbaren zu können wird immer dringender. Um die Mehrfachbelastung zu meistern, brauchen Betroffene Hilfe über die gesetzlichen Leistungen hinaus.
Genau dafür wirbt die besagte Kampagne bei Unternehmen. „Wir hatten keine Ahnung, worauf wir uns einlassen, aber für uns war klar, dass wir da mitmachen wollen“, erinnert sich Müller-Finkenstein. Sie erklärte sich zudem bereit, als Botschafterin andere Unternehmen für das Thema zu sensibilisieren – und musste feststellen, dass es schwierig ist, ein Bewusstsein dafür zu schaffen.
Anfänge liegen acht Jahre zurück
Die Anfänge der Kampagne liegen im Ennepe-Ruhr-Kreis und acht Jahre zurück. Die Idee wurde im „Netzwerk W(iedereinstieg)“ entwickelt, das sich hauptsächlich für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und den Wiedereinstieg von Frauen ins Erwerbsleben engagiert. Immer häufiger jedoch sprachen die Frauen die Schwierigkeit an, neben ihrem Job auch noch die Pflege zu organisieren, erinnert sich Christa Beermann, Demografie-Beauftragte des Kreises. Sie koordiniert das Netzwerk und leitet die Kampagne.
Dass das Netzwerk früher als andere mit dem Thema konfrontiert wurde, ist keine Überraschung. Der Wandel der Bevölkerung ist hier besonders deutlich zu spüren: Im Durchschnitt hat der Ennepe-Ruhr-Kreis die ältesten Bewohner in ganz NRW. Das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Pflegebedürftigen entwickelt sich ungünstig, formuliert es Beermann.
Anspruch auf Freistellung in akuten Pflegefällen
In einem akuten Pflegefall haben Beschäftigte normalerweise das Recht auf eine Auszeit von ein bis zehn Arbeitstagen, um die Pflege zu Hause zu organisieren. Arbeitgeber sind für diesen Zeitraum verpflichtet, betroffene Mitarbeiter freizustellen.
Während der Corona-Pandemie wird bis 31. Dezember 2020 der Anspruch auf Freistellung auf bis zu 20 Arbeitstage verlängert. Dies gilt für coronabedingte Versorgungsengpässe, wenn etwa die Pflegeeinrichtung schließt, Angebote eingestellt werden oder die übliche Pflegeperson ausfällt. Alle Arbeitnehmer haben ein Anrecht, unabhängig von der Größe des Unternehmens.
Gibt es keine Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber, zahlen die Pflegekassen ein Pflegeunterstützungsgeld. Diese Leistung wird bis Ende Dezember 2020 jetzt auch für bis zu 20 Tage gezahlt. Weitere Informationen dazu hat die Verbraucherzentrale.
Und die traditionelle Lösung – sprich: die Frauen ziehen sich aus dem Beruf zurück – sei künftig einfach keine Option mehr. „Viele Mütter, die sich jahrelang um Kinder gekümmert und beruflich gerade wieder Fuß gefasst haben, haben pflegebedürftige Angehörige. Bevor sie richtig eingestiegen sind, sollen sie schon wieder aussteigen“, sagt Beermann.
In der Tat pflegen bislang mehr Frauen als Männer. Sie schränken im Pflegefall auch häufiger ihre Arbeitszeit ein als Männer. Eine besondere Situation ergibt sich bei Angehörigen, die einen Demenz-Erkrankten betreuen: Rund jeder fünfte Pflegende gibt seinen Beruf ganz auf. In diesen Fällen, aber auch generell, kann die Pflege zur Armutsfalle werden: 44 Prozent der Haupt-Pflegepersonen haben ein Haushaltseinkommen von unter 1000 Euro.
Das Problem zu ignorieren kann sich niemand leisten. Weder der einzelne Betroffene, noch der Betrieb, der auf seine Fachkräfte angewiesen ist. Weder die Gesellschaft, noch die sozialen Sicherungssysteme. „Es werden sich viel mehr Menschen und Firmen die Frage stellen müssen, wie private Sorgearbeit mit dem Job unter einen Hut zu bekommen ist“, sagt Beermann. Diese Entwicklung sei kein Schreckensszenario. „Sie muss nur berücksichtigt werden.“
Arbeitnehmer haben Angst vor Nachteilen im Job
Mittlerweile hat das Thema weiter an Bedeutung gewonnen. Die Kampagne sorgt bundesweit für Aufmerksamkeit. Christa Beermann koordiniert in ihrer Funktion als Demografie-Beauftragte inzwischen sämtliche Maßnahmen, die sich direkt an die Unternehmen richten. Bis heute nehmen 30 Betriebe an der Kampagne teil.
„Aber Pflege ist immer noch ein Tabu“, sagt Beermann. Eines, das seitens der Unternehmen gebrochen werden müsse. „Wir haben festgestellt, dass Beschäftigte sich oft nicht trauen, etwas zu sagen. Es ist ein unangenehmes Thema.“
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Anders als bei Konflikten, die sich etwa durch die Kombination von Beruf und Kindern ergeben: Wer Eltern wird, der zeigt gerne Fotos vom Nachwuchs und kann eher auf Toleranz hoffen, sollte er mal zu spät kommen oder früher gehen müssen. „Dass man aber den demenzkranken Vater versorgen muss, verheimlichen viele lieber“, sagt Beermann.
Neben der Scham hätten viele Beschäftigte Angst vor Nachteilen im Job: dass man ihnen die Verantwortung entzieht – und sie ihnen auch perspektivisch nicht zurückgibt. Sie hätten zudem Sorge, sich Ärger oder Unverständnis von Kollegen und Vorgesetzten einzuhandeln. „Weil deshalb viele das Problem für sich behalten, hören wir häufig von Unternehmen, dass sie gar keinen Bedarf haben. Das ist natürlich ein Trugschluss.“
Unternehmen sind gefordert das Tabu zu brechen
Die Erfahrung zeigt: Wer als Firma eine klare Haltung entwickelt, erfährt auch vom Bedarf. Die HWG in Hattingen wurde gleich nach ihrer ersten Betriebsversammlung zum Thema von einem Azubi angesprochen, der seine todkranke Mutter pflegte. „Wir kamen uns total naiv vor“, meint Müller-Finkenstein, „wir hatten schlicht keine Ahnung.“
Das Unternehmen passte das Arbeitszeitkonto des jungen Mannes an seine Situation an mit der Maßgabe, zunächst nicht auf mögliche Fehlstunden zu gucken und das volle Gehalt weiterzuzahlen.
Diese Offenheit war genau das, was auch Anna Ludwig als enorm erleichternd empfand. Erstens, weil der Betrieb für sie über flexible Arbeitszeiten und gutes Vertretungsmanagement eine Lösung fand. Zweitens, weil die vorgelebte Sensibilität auch die Kollegen erfasste. „Der Zusammenhalt war groß“, erzählt sie, „und das Interesse auch. Denn schließlich kann es irgendwann jeden treffen.“
Unternehmen fürchten Folgekosten
Vor allem kleine und mittelständische Unternehmen fühlen sich jedoch überfordert, was Christa Beermann gut versteht. Bei den Bedenken gehe es häufig um die Kosten. „Der Unabhängige Beirat für die Vereinbarung von Pflege und Beruf“ beziffert aber die Folgekosten für alle deutschen Betriebe, die schlechte oder keine Optionen anbieten, auf 8,06 Milliarden Euro für Beschäftigte mit pflegebedürftigen Angehörigen. Er verweist zugleich darauf, dass diese Kosten deutlich gesenkt werden könnten, wenn man sich um bessere Bedingungen bemüht.