Axel Petermann ist polizeilicher Fallanalytiker und Kriminalist. Im Interview erklärt er, wie Ermittlungen zu Amoktaten ablaufen – und welches Verhalten auf spätere Gewalttaten hindeuten kann.
Profiler zu Amoklauf in Hamburg„Solche Taten geschehen nicht aus dem Nichts“
Nach dem brutalen Amoklauf in Hamburg am Donnerstagabend teilte die Hamburger Polizei mit: Es habe ein anonymes Hinweisschreiben gegeben, mit der Bitte, die Erlaubnis für das Tragen einer Waffe bei Philipp F. zu überprüfen.
Der Grund: Er könnte eine psychischen Erkrankung haben, die aber nicht diagnostiziert wurde, weil sich Philipp F. nicht in Behandlung begeben wolle. Die Polizei ging dem Schreiben nach und kontrollierte den mutmaßlichen Täter unangekündigt zu Hause. Die Beamten schätzten ihn insgesamt als unauffällig ein – sprachen nur eine Verwarnung aus, weil er ein Projektil außerhalb des Waffentresors gelagert hatte.
Herr Petermann, wie kann es sein, dass die potentielle Gefahr von Philipp F. trotz des anonymen Hinweises nicht erkannt wurde? Sind die Polizisten nicht ausreichend geschult oder konnte der Täter sich gut inszenieren?
Es ist durchaus möglich, dass Menschen, die so eine Tat planen, sich bei einer polizeilichen Überprüfung anders geben und eventuelle psychische Erkrankungen wie zum Beispiel Psychosen nicht erkennbar sind.
Gibt es bei solchen konkreten Hinweisen feste Protokolle oder Schritte, die befolgt werden müssen?
Es gibt die Möglichkeit der Gefährdungsanalyse durch die Polizei, mit der die Gefährlichkeit eines Menschen geprüft werden kann – sei es zum Beispiel bei Anzeichen einer Eskalation von häuslicher Gewalt, Stalking oder auch möglichen Amoktaten. Zwar gibt es für diese Fälle bestimmte Raster, jedoch handelt es sich immer um eine Einzelfallprüfung. Es ist schwierig, nun hinterher von außen festzumachen, was man hätte wissen oder voraussagen müssen. Nachher ist man immer schlauer. Allerdings hätte bei solch einer waffenrechtlichen Überprüfung kritisch hinterfragt werden können, warum Philipp F. zum Beispiel bereits schon damals möglicherweise auffällig viele Magazine in seinem Waffenschrank lagerte. Auch möglichen Konflikten mit dem Arbeitgeber oder den Zeugen Jehovas hätte man nachgehen können, um ein möglichst objektives Bild seiner Persönlichkeit zu erfahren.
Wie wahrscheinlich ist es, dass der mutmaßliche Täter erst innerhalb der vergangenen Wochen – also nach der Prüfung durch die Polizei – seine Tat geplant hat?
Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Wir wissen, dass Amokläufer ihre Taten nicht plötzlich begehen, sondern langfristig planen. Im konkreten Fall kann ich – ohne Teil des Ermittlungsteams zu sein – jedoch nur mit anderen Amoktaten vergleichen: Meist haben solche Täter ihr Feindbild langfristig aufgebaut und sind auf potentielle Opfer fixiert. Sie fühlen sich von diesen zu Unrecht falsch behandelt, sind in ihrem Selbstverständnis erschüttert, sinnen auf Rache. Es folgt eine kognitive Einschränkung bei der Wahrnehmung ihrer Außenwelt und wird durch ein Schwarz-Weiß-Denken ersetzt. Im Vorfeld der Tat kommt es oft zu sogenanntem „Leaking-Verhalten“, bei dem Täter ihre Pläne oder Vorgehensweisen in der Vortatphase unbewusst oder bewusst durchsickern lassen.
Was könnte das etwa sein?
Es kann mehrere Hinweise gegeben haben, zum Beispiel gewisse Äußerungen, die der Täter in verschiedenen Kontexten – etwa im Freundes-, im Familienkreis oder den sozialen Medien – gemacht haben könnte, die zum Beispiel auch mit Gewaltphantasien zu tun hatten. Es scheint derartige Anzeichen gegeben zu haben, die den anonymen Hinweisgeber dazu veranlassten, die Polizei zu kontaktieren. Auch Suchanfragen, die der Täter im Internet machte, oder Äußerungen in Foren oder sozialen Netzwerken werden Ermittler nun sicherlich in den Blick nehmen. Auf seiner Website und in einem Buch soll der mutmaßliche Täter krude Theorien über Gott, Jesus und Satan geschrieben haben.
Wie schätzen Sie so ein Verhalten ein?
Solche „Manifeste“ oder langen Schriften sind nicht ungewöhnlich bei Amoktätern. Das gab es auch in anderen Fällen in der Vergangenheit. Meist haben die Täter ein Bedürfnis, ihre „Mission“ publik zu machen und ihr Weltbild zu erklären. Oft beziehen sie sich darin auch auf vergangene Amokläufe, die sie idealisieren und nachahmen. Im konkreten Fall sollte man sich natürlich genauer anschauen, ob es darin Hinweise auf Gewalttaten gegeben hat. Dabei geht es auch um Aufmerksamkeit. Viele Amokläufer begehen im Anschluss der Tat Suizid, der vorweg geplant wurde. Für die Zeit nach der Tat und ihrem Tod treffen sie häufig Vorkehrungen, kündigen zum Beispiel ihre Wohnung und Bankkonten oder setzen ihr Testament detailliert auf – auch das zählt zum Leaking-Verhalten. Der Suizid soll dann gemeinsam mit solchen Schriften medienwirksam Aufmerksamkeit erregen und ist gleichzeitig als Demonstration ihrer zerstörerischen Macht zu verstehen.