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Dunja Hayali im Interview„Leider werden Erkenntnisgewinn und Kontext zur lästigen Nebensache“

Lesezeit 10 Minuten
ZDF-Journalistin Dunja Hayali hat sich die neue Protestkultur in Deutschland näher angesehen: „Inhalt und Erkenntnis statt Empörung, das war mein Ziel“, erklärt die 50-Jährige im Interview.  (Bild:  ZDF / Klaus Weddig)

ZDF-Journalistin Dunja Hayali hat sich die neue Protestkultur in Deutschland näher angesehen: „Inhalt und Erkenntnis statt Empörung, das war mein Ziel“, erklärt die 50-Jährige im Interview. (Bild: ZDF / Klaus Weddig)

Klimaaktivisten, Landwirte, Menschen, die sich um die Demokratie sorgen, Radikale aller Lager: In Deutschland wird wieder demonstriert. Dunja Hayali hat sich die neue Lust am Protest genauer angesehen. Wo es gefährlich wird, erklärt die Journalistin im Interview.

Mit Wut kennt sie sich aus: Dunja Hayali, leitende Moderatorin im „heute-journal“ und „ZDF-Morgenmagazin“, ist nicht nur eine der bekanntesten Stimmen des Landes, sondern oft selbst Zielscheibe von Hass-Kommentaren - vor allem im Netz. Weil die Angriffe irgendwann zu weit gingen, hatte sich die online sonst überaus aktive ZDF-Journalistin gar kurzzeitig aus den sozialen Medien zurückgezogen. Nicht jedem scheint ihr Engagement gegen Diskriminierung zu gefallen, für das sie zuletzt mit dem „Talisman für gesellschaftlichen Zusammenhalt“ geehrt wurde. „In ihrer Arbeit setzt sich Frau Hayali vehement gegen die Spaltung in unserer Gesellschaft ein und engagiert sich für Dialog und gegen Ausgrenzung“, hieß es in der Begründung.

Zweifellos spiegelt sich dieser Einsatz auch in ihrer journalistischen Arbeit, wie nun eine Reportage der „Am Puls“-Reihe unter dem Titel „Wütend, laut, radikal - die neue Protestkultur?“ (Donnerstag, 22. August, 22.30 Uhr, ZDF) illustriert. Hayali beleuchtet die Demonstrationen der letzten Monate und trifft unter anderem Klimaaktivisten, Landwirte und AfD-Anhänger. Was die Proteste für die Demokratie bedeuten, ob ihre Radikalität bisweilen gefährlich ist und wie sie mit Feindseligkeiten gegen die Medien und sich selbst umgeht, erklärt die 50-Jährige im Interview.

teleschau: Frau Hayali, in Deutschland wird wieder protestiert - und Sie haben sich für Ihre Reportage mitten ins Geschehen begeben. Was haben Sie sich davon erhofft?

Hayali: Ich wollte verstehen, was die Menschen antreibt, warum sie sich plötzlich verstärkt bewegen und ob sie damit auch das Land beziehungsweise die politische Landschaft bewegen können. Ob nun Landwirte, „Letzte Generation“, „Fridays for Future“, Israel und Gaza, die sogenannten Kalifat-Demos, Montagsspaziergänge, Demokratiebewahrer, Streiks ... - Es war 'ne Menge los, und ich hatte den Eindruck, irgendwas ist anders. Qualität, Quantität, Intensität.

teleschau: Was interessierte Sie besonders?

Hayali: Ob die ganzen Demos eher ein Ausdruck und Zeichen von gelebter Demokratie sind oder doch vermehrt der Ausdruck von Frust und Wut gegen „die da oben“ und die eigene Überforderung. In diesem Spannungsfeld bewegen sich fast alle Demonstrationen, bei denen ich war. Oftmals habe ich eher Abgrenzung statt Aufeinanderzugehen beobachtet. Der Dialog wäre ja aber wichtig, um zu gucken, wo es möglicherweise Kompromisslinien geben könnte.

teleschau: Wo fiel Ihnen das am deutlichsten auf?

Hayali: Bei den Demonstrationen gegen Rechtsextremismus einerseits und den Demos der neuen Rechten andererseits. Da gibt es keinen Raum für Dialog. Freund-Feind-Denken sieht man aber auch bei der Thematik Israel und Gaza. Die Menschen begegnen sich sehr misstrauisch und unversöhnlich. Man will oder kann die andere Seite nicht verstehen, sehen - geschweige denn fühlen. Dabei leiden in diesem Krieg so viele Menschen - und zwar auf allen Seiten.

teleschau: Mit Blick auf die propalästinensischen Demos wird einerseits auf antisemitische Äußerungen verwiesen - andererseits sehen manche die Meinungsfreiheit bedroht. Welchen Eindruck konnten Sie gewinnen?

Hayali: Es gibt auf den Demonstrationen immer wieder antisemitische und antiisraelische Äußerungen. Die haben in unserem Land keinen Platz. Da hat der Staat die Pflicht, einzugreifen. Wenn man aber „Free Palestine“ ruft, ist das für mich im Ursprung eine legitime Position. Und doch wird sie problematisiert, weil viele mittlerweile auch ein „From the river to the sea“ mithören, selbst wenn es nicht gesagt oder gemeint ist. ohne, dass es gesagt wird. Ein Ausruf übrigens, den es auch von israelischer Seite gibt. Da folgt dann der Zusatz: „This is the only flag you will see“. Gemeint ist die israelische Fahne. Und anstatt nachzufragen: „Was meinst du konkret?“, wird sofort verurteilt. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe darf aber nicht dazu führen, dass man das Nachdenken einstellt.

„Mit einer anderen Meinung können viele von denen nicht wirklich umgehen“

teleschau: Welche Rolle spielt man da als Journalistin?

Hayali: Bei den Dreharbeiten habe ich viel zugehört und versucht zu verstehen. Daher haben wir uns für die Interviews auch viel Zeit genommen. Einiges, was da gesagt wurde, hat schon auch geschmerzt. Manches habe ich stehen lassen, manchmal habe ich widersprochen oder die Gegenposition eingenommen. Am Ende sollen sich die Zuschauenden ein eigenes Bild machen können.

„Mit einer anderen Meinung können viele von denen nicht wirklich umgehen“, berichtet Dunja Hayali von ihren Eindrücken mit manchen Demonstranten. (Bild: ZDF/Chris Caliman)

„Mit einer anderen Meinung können viele von denen nicht wirklich umgehen“, berichtet Dunja Hayali von ihren Eindrücken mit manchen Demonstranten. (Bild: ZDF/Chris Caliman)

teleschau: Wie groß war denn die Bereitschaft bei den Demonstranten, mit den Medien zu sprechen?

Hayali: Sowohl bei den Demonstrationen von Rechtsaußen, als auch bei „Muslim Interaktiv“ oder den propalästinensischen Demos gab es eine skeptische bis latent aggressive Haltung. Interessant fand ich, dass die Teilnehmer bei der sogenannten „Kalifat-Demo“ sich selbst den Mund verboten haben. Wer das tut, begibt sich bewusst in eine Opferrolle. Rechtsaußen lässt grüßen. Aber gut, die eigene Position in einem kritischen Interview kundzutun, ist halt was anderes, als auf einer Bühne vor Gleichgesinnten zu stehen. Das verstärkt die Bubble-Bildung, führt aber nicht zu Verständigung oder Austausch.

teleschau: Dass sich die Demonstranten in ihren eigenen Blasen bewegen und ihre Anliegen nicht mit einer breiten Öffentlichkeit diskutieren: Ist das ein allgemeines Phänomen, das Sie beobachten konnten?

Hayali: Es ist halt bequemer, sich in seiner gleichgesinnten Blase zu bewegen. Man muss sich und seine Position nicht hinterfragen oder hinterfragen lassen und kann ohne Widerspruch behaupten, man sei tolerant und offen, bis der- oder diejenige dann wirklich mal auf eine andersmeinende Person trifft. Im Film haben wir uns dazu entschieden, extrem sensible Thematiken nicht auf einer Demo zu besprechen, sondern in einer ruhigen Gesprächssituation. Wer also auf Konfrontation und eskalierende Szenen hofft, wird enttäuscht. Inhalt und Erkenntnis statt Empörung, das war mein Ziel.

teleschau: Mit wem konnten Sie beispielsweise sprechen - und wie gehen Sie vor?

Hayali: Ich habe zum Beispiel mit einer propalästinensischen Aktivistin gesprochen, die teilweise mit ihren Äußerungen an meine Grenze und darüber hinaus ging. Aber das muss man in Teilen ertragen, insbesondere dann, wenn man nicht klischeeartig die Klassiker abfragen will, sondern durchdringen will, was eine Person antreibt, warum sie frustriert und manchmal sogar aggressiv ist. Und auch, welche Argumente sie hat. Nach zwei Stunden waren wir beide innerlich wie äußerlich erschöpft. Um Erkenntnisse zu erlangen, muss man sich in unserer schnelllebigen und auf Empörung ausgerichteten Zeit, aber wirklich Zeit nehmen und zuhören.

teleschau: Bekommen Sie auch die Sorge gespiegelt, vor der Kamera nur für den Film benutzt zu werden?

Hayali: Ich sage jedem, dass nur ein Bruchteil des Interviews im Film landen wird. Wir versuchen dabei darauf zu achten, dass die Gewichtung stimmt und wir - bei aller Verkürzung - Aussagen nicht aus dem Kontext reißen. Das lange Gespräch ist dennoch wichtig, wenn man wirklich verstehen will. Es geht mir also nicht darum, jemanden vorzuführen - wenn, dann tun das die Protagonisten mit ihren Aussagen selbst.

teleschau: Welche Kritik wird Ihnen gegenüber an den Medien geübt?

Hayali: Der Klassiker - dass man in unserem Land ja nicht mehr alles sagen dürfe, um es dann im nächsten Augenblick in aller Ausführlichkeit doch zu tun. Das ist ein Pseudoargument, das sich in diversen Bubbles verselbständigt hat und hartnäckig hält; dagegen kann man tun und sagen, was man will. Mit Widerspruch oder mit einer anderen Meinung können viele von denen nicht wirklich umgehen. Zudem gibt es große Vorbehalte gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Gelobt wurden zwar Beiträge, die deren Meinung widerspiegelten, aber alles jenseits davon ist dann wieder „gesteuert“. Die in Teilen berechtigte Medienkritik ernst nehmen und sie abgrenzen von den „Lügen- oder Lückenpresse“-Rufen - das ist weiterhin mein Anspruch.

„Die sozialen Medien verstärken den eigenen, engen Meinungskorridor“

teleschau: Wenn Sie auf die Gespräche mit den Demonstrierenden und auf Ihre Recherchen zu den Protesten blicken: Was hat sich denn an der Protestkultur in Deutschland in den vergangenen Jahren geändert?

Hayali: Nach all den Gesprächen, die ich geführt habe, würde ich sagen: Es geht viel um Überforderung, Veränderung, Verzicht, Ungewissheiten und die erwähnten Blasen. Die sozialen Medien verstärken den eigenen, engen Meinungskorridor. Und obwohl wir so viele Möglichkeiten der Kommunikation und Veröffentlichung haben, ist es zeitgleich schwierig geworden, mit dem eigenen Anliegen durchzudringen.

teleschau: Können Sie das ausführen?

Dunja Hayali kennt sich aus mit Hass im Netz: „Die sozialen Medien verstärken den eigenen, engen Meinungskorridor“. (Bild: ZDF/Chris Caliman)

Dunja Hayali kennt sich aus mit Hass im Netz: „Die sozialen Medien verstärken den eigenen, engen Meinungskorridor“. (Bild: ZDF/Chris Caliman)

Hayali: Wer bekommt Aufmerksamkeit - medial und politisch? Die, die friedlich und anständig demonstrieren, oder die, die laut, provokant und mitunter radikal sind? Eine traurige Lernkurve der letzten zehn Jahre, die mittlerweile verschiedene Gruppen für sich nutzen. Dabei fallen die Leisen, die Versöhnlichen und die mit den Grautönen hinten rüber. Daran sind wir Medien schon auch mitverantwortlich.

teleschau: Wo konnte man das Ihrer Ansicht nach am besten beobachten?

Hayali: Zuletzt am Beispiel der „Letzten Generation“. Warum haben die so viel Aufmerksamkeit erhalten? Weil sie sich festgeklebt haben. Weil sie genervt haben. Weil sie provokant waren. Weil sie für Staus gesorgt haben. Weil sie Empörung erzeugt haben. Interessant finde ich dahingehend auch den Vergleich mit den Landwirten.

teleschau: Inwiefern?

Hayali: Beide haben Straßen blockiert - die einen haben dafür Empörung geerntet, die anderen Verständnis. Das ist doch spannend. Warum wurde das im Großen und Ganzen so unterschiedlich bewertet? Warum schauen wir als Gesellschaft so unterschiedlich auf Proteste? Spielen Emotionen eine Rolle? Spielt die eigene Betroffenheit eine Rolle? Spielt es eine Rolle, ob ich von den Forderungen und den möglicherweise einhergehenden Veränderungen betroffen sein werde?

teleschau: Wie sehr kommt es auf die Außenwirkung einer Protestbewegung an, etwa ihre Darstellung in den Medien?

Hayali: Ich frage mich immer, welche Rolle wir als Medien in dieser Dynamik spielen. Klar, es ist ein wichtiges Puzzleteil, wer Aufmerksamkeit bekommt. Aber auch, was gezeigt wird. Stimmt die Balance? Kommen alle zu Wort? Ein Mitglied der „Letzten Generation“, das wir einen Tag lang begleitet haben, sagte mir: Ihr habt fast nur das Festkleben und drei wütende Autofahrer gezeigt. Dass Menschen aber auch Trinken und Essen gebracht hätten, dass sie mit den Menschen ins Gespräch gekommen seien, hätten wir kaum gezeigt.

„Vom rechten Rand aus gesehen ist halt auch alles links“

teleschau: Das heißt, es gibt trotz erhitzter Proteste bisweilen Spielraum für Diskussionen und Austausch?

Hayali: Es gibt diese Themen, bei denen die eine Seite recht hat, die andere aber nicht automatisch im Unrecht ist. Die Debatte zwischen Klimaaktivisten und Autofahrern ist so ein Beispiel. Und wenn die sich dann tatsächlich untereinander austauschen und nicht nur Forderungen an die Politik stellen, ist das ein guter, erster Schritt. Dann gibt es Themen, wo es keinen Spielraum gibt. Etwa die Rechtsaußen-Demonstrationen auf der einen und die Demos für die Demokratie und das Grundgesetz auf der anderen Seite. Als Journalistin rede ich aber mit allen, also auch mit Neonazis, Islamisten oder anderen Extremisten.

teleschau: Die Neugier, diese Leute zu verstehen, haben Sie sich also auch beibehalten, nachdem Sie selbst in den letzten Jahren öfter zur Zielscheibe geworden sind?

Hayali: Vielleicht, weil ich stur und neugierig bin. Oder einfach, weil das mein Verständnis von Journalismus ist. Ich möchte einfach verstehen, warum jemand zu dem geworden ist, der er ist. Warum er denkt, wie er denkt? Was mich ehrlich gesagt nervt, sind die ewigen Unterstellungen, ich würde zum Beispiel alle, die nicht meiner Meinung sind, in die Rechtsaußen-Ecke stellen. Erstens kennen 99 Prozent der Menschen - im Gegensatz zu meiner Haltung - meine Meinung zu vielen Dingen nicht und zweitens habe ich bisher noch niemanden in eine Ecke gestellt. Das machen die Menschen dann schon schön selbst - und merken es nicht mal. Aber gut, vom rechten Rand aus gesehen ist halt auch alles links.

teleschau: Gibt es denn Menschen, die nach einem Gespräch mit Ihnen ihre Meinung wirklich überdenken?

Hayali: Darum geht es nicht. Es geht für mich in erster Linie darum, zu zeigen, was ist. Was Menschen denken und warum. Allerdings gehört auch der Widerspruch zum Interview. Den sehen aber zunehmend mehr Menschen als Affront an und behaupten dann, man dürfe ja nicht mehr alles sagen.

teleschau: Woher rührt es denn, dass der Dialog so selten geworden ist?

Hayali: Wir leben in einer Welt der Empörungsspiralen. Erst ist die Aufregung groß, und drei Tage später stürzen sich alle auf den nächsten vermeintlichen Skandal. Aber kaum einer hat irgendetwas gelernt, verstanden oder mitgenommen, außer 7.000 Likes für einen billigen Kommentar auf X, wo man die eigene Bubble bespaßt. Leider werden Erkenntnisgewinn und Kontext zur lästigen Nebensache.

teleschau: Welche Rolle spielen die sozialen Medien für diese Entwicklung?

Hayali: Algorithmen und Bots sind schon eine massive Gefahr. Man darf aber auch nicht alles immer nur auf die Technik und den Fortschritt schieben: Dahinter stecken auch Menschen. Das muss uns klar sein, sonst sehen wir die Gefahren nicht, die in der realen Welt stattfinden. Bedrohungen und Beleidigungen gibt es nicht nur im digitalen Raum, sondern auch in der analogen Welt. (tsch)