Ein 45-Jähriger aus Wermelskirchen soll über Jahre hinweg Kinder sexuell missbraucht haben. Der Beginn des Prozesses in Köln macht die monströsen Vorwürfe nun greifbar. Und der Mann gesteht.
Missbrauchsprozess in Köln„Raffiniert, perfide und hinterhältig“ Vertrauen erschlichen
Hinweis: Dieser Text enthält Details und Beschreibungen von sexuellem Missbrauch an Kleinkindern, die der Angeklagte begangen haben soll. Sie können auf Personen verstörend wirken.
Kerzengerade sitzt Marcus R. auf seinem Stuhl. Das hellblaue Hemd ist bis oben zugeknöpft, der Kragen hochgestellt. Der Mann mit dem akkuraten Kurzhaarschnitt hat den Kopf gesenkt. Konzentriert, nahezu ungerührt, blättert er in der grünen Kladde, die vor ihm auf dem Tisch liegt. Jedes einzelne Blatt glättet er noch einmal sorgfältig mit der linken Hand, nachdem er es mit der rechten umgeblättert hat.
Komplex Wermelskirchen: Säuglinge und Kleinkinder in 124 Fälle missbraucht
Es scheint so, als ob ihn das gar nichts anginge, das Grauen, von dem die beiden Staatsanwältinnen in Saal 7 des Kölner Landgerichts gerade berichten. Zwei Stunden lang referieren die Juristinnen 124 Einzelfälle, in denen Säuglinge und Kleinkinder missbraucht und gequält wurden. R. hat seine Verbrechen fotografiert und gefilmt.
Die Bilder und Videos seiner Schandtaten hat er penibel mit einer Kombination aus Zahlen und Buchstaben archiviert. Auch um sie anderen Pädokriminellen zum Tausch anzubieten, beispielsweise um ihnen dann im Internet-Chat live Anweisungen etwa beim Missbrauch der eigenen Kinder zu geben.
Dies alles steht in der Anklageschrift, die am Dienstag beim Prozessauftakt in Köln verlesen wird. R., der eher wie ein Student wirkt, jedenfalls mit 45 viel älter ist als er aussieht, scheint jedes einzelne Wort mitzulesen. In der grünen Kladde, die er sich eben noch vor sein Gesicht gehalten hat, damit er auf den Bildern der Pressefotografen nicht zu erkennen ist. Wenn er ab und zu in Richtung der Staatsanwältinnen blickt, wirkt er interessiert. Keineswegs aber so angestrengt oder gestresst, wie die meisten der übrigen Anwesenden im Saal.
Die Kinder mit Katheter oder Stromschlingen gequält
Das, was sie zu hören bekommen, ist „extrem verstörend“, wie der Richter zuvor gewarnt hat. Klugerweise hat er zu Beginn der Verhandlung deshalb einen jugendlichen Zuhörer in der Besucherzone gebeten, den Saal zu verlassen. Denn was R. den Säuglingen und Kindern angetan hat, ist so unfassbar, dass man es kaum beschreiben kann.
Von oralen Vergewaltigungen bei einem vier Monate altem Jungen beispielsweise ist die Rede. Vom Weinen und den Schmerzensschreien der Opfer, die den Täter eher befeuert als gerührt haben. Von Kathetern, Stromschlingen oder Schläuchen, die R. benutzt hat, um seine Perversionen umzusetzen. Von sexuellen Misshandlungen, die bis zu 40 Minuten andauerten.
In 99 Fällen hat R. die Kinder selbst missbraucht. 23 seiner Opfer konnte die Polizei identifizieren. Der Großteil davon sind Jungen im Alter von bis zu acht Jahren, denen er gelegentlich auch Schlafmedikamente verabreicht hat, um ungestört seinen Neigungen nachgehen zu können. Folgt man der Anklage, war sein Handeln präzise und zielgerichtet, geprägt von einer enormen kriminellen Energie.
Den Großteil seiner Opfer hat er als Babysitter gefunden. Dabei erschlich er sich „raffiniert, perfide und hinterhältig“ das Vertrauen der Eltern, berichtet ein Anwalt, der eine der betroffenen Familien als Nebenkläger vor Gericht vertritt. „Ihr solltet mir nicht sofort vertrauen, beobachtet mich ruhig eine Zeit lang aufmerksam, bevor ihr mir eure Kinder überlasst“, habe er beispielsweise gesagt.
Angeklagter will Opfern Schmerzensgeld zahlen
Marcus R., der bis zu seiner Festnahme im Dezember vergangenen Jahres mit seiner Frau im rheinisch-bergischen Wermelskirchen wohnte, jedenfalls sei „vollumfänglich geständig“, verliest sein Anwalt Christian Lange am Dienstag in einer Erklärung vor Gericht. „Alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe treffen zu.“ Schon am ersten Tag nach seiner Verhaftung habe R. sich dazu entschlossen, „zu seinen Taten zu stehen und mit der Vergangenheit abzuschließen“. Er habe darauf hingewiesen, dass er noch eine „Vielzahl“ weiterer Kinder missbraucht hat, als damals bekannt gewesen sei. Vier Tage lang habe er den Ermittlern deshalb unter anderem dabei geholfen, seine Opfer und Komplizen zu identifizieren.
Durch diese Aussagen habe sein Mandant der Polizei auch ermöglicht, „unter seinem Pseudonym beziehungsweise seinen Internet- oder Darknet-Identitäten selbst auf den einschlägigen Plattformen zu agieren, um andere Straftaten aufzudecken“, so der Anwalt. Selbst wenn ihm klar sei, dass er das verursachte Leid damit nicht einmal annähernd ausgleichen könne, wolle R. seinen Opfern „kurzfristig ein Schmerzensgeld“ zahlen. Dies und wie es zu den Straftaten kam, wolle der Angeklagte am Mittwoch vor Gericht erläutern, wobei er auch „für alle weiteren Fragen“ zur Verfügung stehe.
Dem Täter drohen 15 Jahre Haft und eine anschließende Sicherheitsverwahrung
Ganz so selbstlos ist die späte Reue anscheinend aber nicht. Er wolle „erreichen“, dass das Gericht sein „heutiges Verhalten genau betrachtet“, ließ R. beim Prozessauftakt verlesen. „Wir gehen davon aus, dass man dann zu der Überzeugung kommt, dass hier heute eine andere Persönlichkeit sitzt, die jedenfalls nicht mehr das Monster ist, das alle fürchten müssen“, ergänzte sein Anwalt. Eine Schlussfolgerung, die abenteuerlich klingt.
Die Flucht nach vorne aber zeigt die Strategie der Verteidigung. Schließlich droht Marcus R. nicht nur die Höchststrafe von 15 Jahren Gefängnis für schweren sexuellen Missbrauch. Wie zu erfahren war, strebt die Staatsanwaltschaft wegen der Gefährlichkeit des Angeklagten nach der Haft eine anschließende Sicherheitsverwahrung an. Seine Straftaten übrigens hätten ihm auch ohne Geständnis nachgewiesen werden können, heißt es von den Ermittlern. Das beschlagnahmte Beweismaterial sei „überwältigend“ gewesen.