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MissbrauchVater berichtet: „Konnte nicht glauben, dass wir nie etwas gemerkt haben“

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tente

Der Ortsteil in Wermelskirchen, in dem der Hauptverdächtige wohnte.

Wermelskirchen/Berlin – Als die Berliner Kripo im August 2021 an der Haustür klingelte, verlor Christian Fraunholz ein Stück weit das Vertrauen in die Menschheit. Es gehe um den sexuellen Missbrauch seiner beiden kleinen Söhne, sagten die Beamten. Und zwar durch ihren einstigen Babysitter Sönke G.. Der Handwerker hatte die Kinder gut vier Jahre zuvor mitunter abends betreut, wenn Fraunholz und seine Frau ausgehen wollten.

Seinerzeit waren die Jungs gerade mal ein und zwei Jahre alt gewesen. Ehe sich Fraunholz und seine Frau fassen konnten, folgte der nächste schlimme Augenblick: Die Beamten zeigten dem Ehepaar ein Missbrauchs-Foto des Tatverdächtigen, auf dem die Eltern ihre Kinder identifizieren sollten. Christian Fraunholz wollte es nicht wahrhaben, Gedanken rasten durch seinen Kopf. „Ich konnte es einfach nicht glauben, dass unsere Kinder Missbrauchsopfer geworden waren und wir nie etwas gemerkt haben“, sagt er heute im Rückblick dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Vater will über seine Qualen berichten

Der 44-jährige sitzt mit seinem Anwalt Roman von Alvensleben in einem Kölner Hotel und will erzählen. Berichten über all die Qualen, die seine Jungen erlitten haben. Mit gefasster Stimme schildert der freiberufliche IT-Experte, wie sich der Täter über Plattformen wie betreut.de oder ebay-Anzeigen als vertrauensvoller Babysitter angeboten hatte. Ein Vorgehen, mit dem auch sein Komplize aus Wermelskirchen seine Opfer geködert haben soll.

Alles zum Thema Herbert Reul

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Christian Fraunholz mit seinem Anwalt Roman von Alvensleben

Marcus R. soll den Berliner Verbündeten im Chat zu immer neuen Taten angestachelt haben. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass der Beschuldigte aus dem Bergischen die Schlüsselfigur in einem der größten Ermittlungs-Komplexe gegen Pädokriminelle ist. Bislang konnte die Kölner Polizei 33 Opfer identifizieren, das jüngste war einen Monat alt. Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ verfolgen die Ermittler jetzt digitale Spuren im vierstelligen Bereich. Justiz und Polizei suchen nach tausenden Tätern, die unter Aliasnamen Missbrauchsdateien mit R. austauschten.

Täter haben sich gegenseitig angestachelt

Sichergestellte Chat-Protokolle, die der „Kölner Stadt-Anzeiger“ einsehen konnte, dokumentieren, wie die Täter sich gegenseitig angestachelt haben. Dabei scheint Marcus R., der vor seiner Verhaftung im Dezember als IT-Experte beim Bayer-Konzern arbeitete, der Ideengeber gewesen zu sein. Kennengelernt hatten sich die Männer zufällig, auf einer sogenannten „Windelparty“. Dort treffen sich Männer, um ihr Fetisch auszuleben.

In den Chats, meist geführt über den verschlüsselten Messengerdienst qTox, agierte Marcus R. unter dem Alias-Kürzel „Stern“ und sein Berliner Kumpel unter „eknoes“. Die Konversation begann im Herbst 2017: Zunächst schickte der Berliner seinem Bekannten Missbrauchsbilder. Marcus R. reichte das nicht: „Wieso machst Du nicht ein Video?“ Antwort Eknoes: „ich traue mich nicht…wenn das Kind was sagt?“. Daraufhin entgegnete „Stern“: „Was soll es sagen? Du magst Videos doch auch lieber als Fotos.“ Eknoes wollte noch einmal darüber nachdenken, zugleich fragte er nach, welches der Opfer sein Partner aus Wermelskirchen denn bevorzuge? Dem Angesprochenen war es einerlei.

„Die Moral zählt nicht…es weiss ja keiner“

Also schlug eknoes einen seiner Betreuungsfälle vor. Der schwerbehinderte sechs Jahre alte Junge musste Windeln tragen und konnte nicht sprechen. Eknoes plagten Gewissensbisse: „Ok wäre das wohl nicht.“ Marcus R. wischte die Bedenken weg: „Die Moral zählt nicht…es weiss ja keiner“. Und dann setzte er nach: Man müsse Altersklassen bilden, riet er seinem Berliner Chatpartner. „Ich denke von 0-2, wo sie nicht sprechen können, muss man es einfach probieren.“

Christian Fraunholz schüttelt mit dem Kopf, wenn er an diese Details denkt und an den Prozess gegen den Berliner Komplizen, der Anfang Mai zu zwölf Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt wurde. „Im Internet ist eine Missbrauchsmafia unterwegs, und wir schauen einfach nur zu.“

Auf Facebook „den netten Sönke von nebenan“ gemimt

Das Paar hatte den Babysitter seiner Kinder zunächst persönlich begutachtet, hatte ihm die Geschichte geglaubt, dass er einzig Eltern entlasten wollte, hatte sein Facebook-Profil gescheckt, auf dem er „den netten Sönke von nebenan gab“. Ein Online-Service, auf dem der 44-Jährige seine Dienste anbot, warb sogar damit, dass man nur mit geprüften Babysittern zusammenarbeite. Fraunholz: „Da frage ich mich, was die geprüft haben?“

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Christian Fraunholz ist der Vater von zwei Söhnen, die als Kleinkinder vom Babysitter missbraucht wurden.

Sein Anwalt von Alvensleben listet zahlreiche Versäumnisse der Behörden auf. Obschon Sönke G. mit etlichen Vorstrafen belastet war, etwa wegen Diebstahl oder unerlaubtem Waffenbesitz, vermittelten Berliner Bezirksämter den Lichttechniker „auch an Kindertagesstätten.“ In drei Einrichtungen verging er sich an seinen Schützlingen. Dies stellte später das Berliner Landgericht im Strafprozess fest. „Der hat sogar behördliche Empfehlungsschreiben bekommen“, sagt von Alvensleben.

„Nirgends schrillten die Alarmglocken“

Weder Jugendämter noch die Strafverfolger habe es gekümmert, als man G. bei einem Einbruch in eine Kita erwischte, in der er Windeln stahl. Auf der Wache habe er zwar berichtet, dass er häufiger Kinder betreue, „doch nirgends schrillten die Alarmglocken“, empört sich der Strafverteidiger aus Hameln. „Auch im Prozess hat sich niemand für das Versagen der kommunalen Behörden interessiert.“

Und so konnte Sönke G. weiterhin ungestört Kinder missbrauchen. Über eine gemeinnützige GmbH wurden ihm vor allem behinderte Jungen zugeführt. Erst nachdem ein anonymer Hinweis im August 2021 bei der Berliner Polizei einging, wurde er festgenommen. Christian Fraunholz ist froh, dass zumindest beide Täter erwischt wurden. „Bisher gibt es auch keine besonderen Auffälligkeiten, dass meine Söhne unter den erlittenen Übergriffen leiden.“ Ob das so bleibt, kann niemand sagen. Die Jungen sind gerade einmal fünf und sieben Jahre alt.

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Dass immer mehr Missbrauchsfälle und Querverbindungen in NRW aufgedeckt werden, ist kein Zufall. Nach den sexuellen Übergriffen an Kindern in Lügde, bei deren Aufklärung es 2019 auch zu einigen Ermittlungspannen gekommen ist, hat vor allem NRW-Innenminister Herbert Reul den Kampf gegen Missbrauch forciert. In seiner Amtszeit hat sich das spezialisierte Personal im Land von rund 100 auf etwa 500 Mitarbeitende etwa verfünffacht. Es wurde ein eigenes Referat im Innenministerium geschaffen, das sich schwerpunktmäßig mit diesem Deliktsfeld befasst und weiterhin an Verbesserungen arbeitet. Die Missbrauchs-Aufklärung wurde, ähnlich wie Ermittlungen bei Mord und Totschlag, in 16 Polizeipräsidien des Landes zentralisiert. Bis Ende 2021 wurden rund 32,5 Millionen Euro in die IT-Technik dieses Bereichs investiert.