AboAbonnieren

Schwedische Clans in NRWWarum skandinavische Polizisten neidvoll nach Essen blicken

Lesezeit 6 Minuten
clan symbolbild

Bochum im Januar 2019: Razzia der Polizei in einer Shisha-Bar

Es ist der 9. Juli 2021, als zwei maskierte Männer mit Pistolen im Anschlag in den Barbershop „Damas Sax“ in Göteborg stürmen. Gezielt rennen sie auf einen Friseurstuhl zu, in dem ein ahnungsloser Kunde sitzt. Die Männer feuern ihrer Zielperson von hinten in den Kopf. Der arabischstämmige junge Mann stirbt noch am Tatort. Die Todesschützen entkommen. Bis heute suchen die schwedischen Behörden nach ihnen. Erfolglos.

Die Ermittler gehen von einem Mord im Drogen-Milieu aus, das vor allem in den Problemvierteln der großen schwedischen Metropolen durch kurdisch-libanesische Clans beherrscht wird. Die Gewalt durch die etwa 40 bekannten Großfamilien hat den einst so friedlich, liberalen Vorzeigestaat in eine schwere Sicherheitskrise gestürzt.

2.500 Schießereien und 200 Tote in fünf Jahren

In Schweden sterben jedes Jahr mehr Menschen durch Schusswaffen als im Rest Europas. In den vergangenen fünf Jahren registrierten die Behörden mehr als 2.500 Schießereien, dabei kamen knapp 200 Menschen ums Leben. Bei Tätern wie Opfern handelt es sich meist um Gang- und Clanmitglieder. Junge Männer, die in den sozialen Brennpunkten aufwachsen und denen jedes Mittel recht ist, um aufzusteigen: Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Sozialleistungsbetrug und blutige Revierkämpfe stehen auf der Agenda.

Oft schicken die Clans jugendliche Mitglieder als Tötungskommandos aus. Denn das schwedische Gesetz sieht für Täter unter 21 Jahren einen enormen Strafrabatt vor. Vor vier Jahren kam eine europäische Vergleichsstudie zu dem Schluss, dass das Risiko durch eine Schusswaffe zu sterben für 15- bis 29-jährige Männer in Deutschland zehnmal niedriger ist als in Schweden.

Schweden wollen von Essen lernen

Mit neidvollen Blicken schauen die skandinavischen Ermittler der Organisierten Kriminalität (OK) so auch nach NRW. Vor allen Dingen zum Clanhotspot Nummer Eins in Essen. Hier hat Polizeipräsident Frank Richter vor einigen Jahren eine Besondere Aufbauorganisation (BAO) eingerichtet, um die kriminellen Clan-Zweige zurückzudrängen, die insbesondere die ärmeren nördlichen Viertel terrorisierten. Zusammengestellt hat er dafür ein ganzes Maßnahmenpaket.

Es wird verdeckt ermittelt, die Polizei und städtische Behörden wie Ordnungs-, Gewerbe- oder Gesundheitsamt bis hin zu Bauaufsicht und Feuerwehr gehen zudem konzertiert gegen Clan-Lokale, Shisha-Bars oder Betriebe vor, die illegale Gewinne erwirtschaften. Zum großen Aufschlag gehören auch Verkehrskontrollen oder Razzien mit Zoll und Steuerfahndung. Die Strategie der 1000 Nadelstiche zeigt bereits Erfolge, sagt Richter im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Durch diese Netzwerkpartnerschaften sind wir ein großes Stück weitergekommen. Die Clan-Szene weiß nun, dass Essen kein einfaches Pflaster mehr ist.“ Zugleich eröffnen die neuen Geldwäscheparagrafen der deutschen Justiz den Ermittlern größere Chancen, kriminelles Clan-Vermögen abzuschöpfen.

Frage nach Handgranaten-Anschlägen

Von den Erfahrungen der Kollegen in Nordrhein-Westfalen will man auch in Schweden profitieren. Seit gut drei Jahren herrscht ein reger Informationsaustausch zwischen nordrhein-westfälischen und skandinavischen Strafverfolgern. Den Anfang machte Schwedens Vize-Polizeichef Mats Löfving mit einem Besuch in der Ruhrmetropole im November 2018. Eine seiner ersten Fragen betraf die Kriminalstatistik: „Wie viele Anschläge durch Handgranaten und Schusswaffen gibt es jährlich in Ihrer Stadt?“ Die deutschen Kollegen schauten ihn verwundert an. Mit der schwedischen Gewaltwelle im Clan-Milieu konnten sie nicht mithalten.

Im hohen Norden nimmt diese stetig zu. Die Familienehre gilt dort ebenso wie im Clan-Milieu in NRW als ehernes Gesetz, Konflikte löst man untereinander, die Staatsmacht bleibt außen vor oder wird bekämpft. Manche Viertel mutierten zu No-Go-Areas. Während einer Fehde riegelten zwei rivalisierende Banden in Göteborg ganze Straßenzüge ab. Die Clan-Mobster verhängten in ihren Stadtteilen Ausgangssperren.

Auch ein Baby und eine Zwölfjährige starben

Tötungsdelikte sind an der Tagesordnung: Im August 2019 musste die Mutter eines zwei Monate Säuglings sterben, weil sie in einem Mordfall gegen eine Gang ausgesagt hatte. Mitunter trifft es auch Unbeteiligte. So starb die zwölf Jahre alte Adriana N. südlich von Stockholm ein Jahr später, als sich rivalisierende Bandenmitglieder an einer Tankstelle gegenseitig beschossen.

Ende Mai 2021 gingen hunderte Mitglieder zweier Großfamilien in der Göteborger Trabantensiedlung im Stadtteil Hjällbo aufeinander los. Die Semmos stellten sich gegen den allgegenwärtigen Ali-Khan-Clan, der ganze Vorstadtviertel kontrolliert. Machtlos schaute die Polizei den Ausschreitungen zu, ohne einzugreifen. Im Polizeifunk sprach man von einem „Aufstand“. Zwei Tage später erschoss ein junger Somalier ein Mitglied der Semmo-Familie. Vermutlich agierte er im Auftrag des gegnerischen Clans. Im Juni 2021 starb ein Polizeibeamter durch Schüsse eines 17-Jährigen im Clanviertel Biskopsgarden in Malmö. Der Todesschütze war erst kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden. Er saß wegen Mordversuchs. In dem Quartier lieferten sich zwei Banden seit längerer Zeit einen erbitterten Krieg.

Verbindungen der Clanfamilien in Schweden und NRW

Viele der kurdisch-arabischen Clans in Schweden haben Ableger im Ruhrgebiet. So stellte die Essener Polizei im Sommer 2021 an der Grenze fest, dass etliche Milieu-Größen ihren „Brüdern“ in Göteborg zur Hilfe eilen wollten, als es dort zur Sache ging. Die Personalien sandte man umgehend an die schwedischen Kollegen. „Die Informationsflüsse laufen hier hervorragend, so wie es in der EU funktionieren sollte“, berichtet Bernd Röser, Chef der Essener BAO Clan.

Nach Erkenntnissen anderer Sicherheitsbehörden in NRW arbeiten die Familien in Schweden und im Ruhrpott etwa beim Drogenhandel eng zusammen. „Es gibt allerdings auch Hinweise auf Geldwäsche“, berichtete ein hochrangiger Ermittler.

So etwa bei der Großfamilie Ali-Khan. Gelsenkirchen gilt als Ali-Khan-Hochburg. Hier führen die Ermittler etwa 60 Mitglieder in ihrem Register, ein größerer Teil füllte bereits Strafakten. Zudem rechnen Insider eine große Diskothek in der Essener City der Familie zu. Abseits der legalen Geschäfte verfolgen kriminelle Zweige andere Ziele.

Drogen an schwedische Abnehmer geliefert

Ein schwedisch-deutsches Joint Venture förderte in einem anderen Fall zutage, dass Schmugglerrouten ausgekundschaftet wurden, um Drogenlieferungen von den Seehäfen in Belgien und den Niederlanden über die Ruhrschiene an die schwedischen Abnehmer zu transportieren.

In Münster stehen derzeit sechs Drogenhändler vor Gericht, darunter ein 29-jähriger Schwede. Die Angeklagten sollen Marihuana und Kokain in speziellen Schmugglertransportern nach Emsdetten und einen Teil weiter nach Skandinavien verfrachtet haben. Die Tatverdächtigen wurden durch entschlüsselte Nachrichten auf Handys mit der kryptierten Software Encrochat überführt. Die Frau des schwedischen Angeschuldigten gehört einem kurdisch-libanesischen Clan an.

Das könnte Sie auch interessieren:

Die Kooperation im Kampf gegen die Clankriminalität zwischen NRW und den schwedischen Behörden gipfelte kürzlich in einer Fach-Konferenz in Stockholm. Mit Interesse lauschten die skandinavischen Kollegen den Ausführungen einer OK-Spezialistin der Essener Polizei, die erneut die Vorzüge einer Netzwerkpartnerschaft vieler staatlicher Organe im Kampf gegen die Clan-Welt hervorhob.

Viel mehr Polizei in NRW

An diesem Punkt stehen die Schweden noch am Anfang. Zum einen fehlen den Sicherheitsbehörden die Ressourcen. Nur 20.000 Polizisten schützen die gut zehn Millionen Einwohner. Zum Vergleich: Allein für die 18 Millionen Einwohner in NRW stehen doppelt so viele Polizeibeamte zur Verfügung. Dazu kommen nochmals gut 17.000 Landesbedienstete.

Zudem gilt das Wort „Clankriminalität“ in weiten Teilen der schwedischen Politik als Tabu. Dabei hatte der schwedische Vize-Polizeichef Löfving bereits vor zwei Jahren vor der zunehmenden Herrschaft zugewanderter Clans im OK-Bereich gewarnt: „Ich behaupte, dass sie eindeutig mit dem Ziel nach Schweden gekommen sind, organisiert und systematisch Kriminalität zu betreiben.“ Die Clan-Unterwelt sei „systembedrohend“ für das ganze Land.