Sexualbegleiter spricht über seine Arbeit„Ich muss fast nie mit Chemie nachhelfen“
Witten – Zwei Stunden bezahlte Intimität. Dafür sind Thomas und Hannah heute verabredet. Thomas Aeffner ist Sexualbegleiter und schläft mit Menschen mit Behinderung, Hannah ist eine seiner Klientinnen. „Wenn du mich berührst, kann ich mich spüren. Schönheit ist kein Idealwert. Das habe ich bei dir gelernt“, hat Hannah in einem Lied über ihre Begegnung mit Thomas geschrieben.
Nach dem Ende ihrer letzten Beziehung habe sie Kontakt zu Callboys aufgenommen, erzählt die 34-Jährige. „Ich hatte zwar Sehnsüchte und Bedürfnisse, aber meine Problemzonen sind nun mal nicht alltäglich“, sagt sie. Weil Hannah eine spastische Lähmung hat, benutzt sie für längere Gespräche einen Sprachcomputer. Nachdem all ihre Anfragen abgelehnt wurden, sei eine von Hannahs Freundinnen auf die Idee gekommen, einen Sexualbegleiter zu kontaktieren. Vor drei Jahren stieß Hannah im Internet so auf Thomas.
Thomas malt seine Klientinnen
Einige Stunden vor ihrer Verabredung sitzt Thomas in seinem Studio. Auf einem Tisch in der Küche liegt ein aufgeklappter Aquarell-Malkasten, daneben eine angefangene Zeichnung. Bevor Thomas sich 2012 als Tantramasseur und fünf Jahre später als Sexualtherapeut ausbilden ließ, verdiente er sein Geld als Künstler. Was er heute zeichnet, hat mit seiner neuen Arbeit zu tun. Er blättert durch den Block, auf den Bildern sind seine Klientinnen zu sehen. „Hier.“ Er deutet auf die Zeichnung einer liegenden Frau. „Nur an den Händen sieht man, dass die Frau eine Spastik hat.“
Kommerziell male er nicht mehr, das habe ihn krank gemacht. „Ich habe mein altes Leben aufgegeben“, sagt er. „Ehe, Haus, Arbeit. Ich war damals schon recht nah an der Rente und habe überlegt, was ich noch mit meinem Leben machen möchte. Nur mit dem Hund spazieren zu gehen, war es nicht“, sagt er.
Thomas ist 68 Jahre alt, hat lange graue Haare und eine dunkle, aber warme Stimme. „Beim Tantra arbeitet man mit sexueller Energie, schläft aber nicht miteinander“, sagt er. Sich als Sexualbegleiter ausbilden zu lassen, sei für ihn die logische Erweiterung gewesen. Der Gedanke, dass es Menschen gibt, die niemanden mehr haben, der sie liebevoll berührt, habe ihn umgetrieben.
Anfang des Jahres hat er sich ein Studio dafür gemietet. Mitten in dem frisch renovierten Raum steht ein knapp 1.40 Meter breites Bett, das Thomas „Lager“ nennt, daneben ein Lift, mit dem Menschen aus dem Rollstuhl auf die Matratze gehoben werden können. Auf einer Kommode stehen Massageöl, Gleitmittel und kleine silberne Schatullen, in denen Kondome liegen, daneben Federn, Felle und ein Rückenkratzer mit Tigerkrallen, an der Wand hängen Flogger, kleine Peitschen. „Für spezielle Liebhaber“, sagt Thomas. „Bloß, weil jemand behindert ist, sind die sexuellen Wünsche nicht anders.“
Er wolle nichts extra für Menschen mit Behinderung machen, sondern ihnen die gleichen Möglichkeiten wie Menschen ohne Behinderungen bieten. Dieser Ansatz ist auf die emanzipatorische Behindertenbewegung zurückzuführen, erklärt er, gelernt habe er dies am Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter in Trebel, wo er seine Ausbildung gemacht hat.
Gefesselt werden genießen gerade Menschen mit Spastiken oft
Während er spricht, entwirrt er Seile, vor ein paar Tagen hat er damit noch jemanden gefesselt. „Gerade für Menschen mit Spastiken ist das toll“, sagt er. „Damit haben sie das Gefühl, gehalten zu sein und loslassen zu können - körperlich und emotional.“ Ein Orgasmus könne die Muskeln von Menschen mit Spastiken noch tagelang entspannen. Nicht bei jedem Treffen hat Thomas aber auch Sex mit seinen Klienten und Klientinnen. „Dafür müssen sich beide jedes Mal neu entscheiden“, sagt er. Berührungsängste habe er nicht. „In dem Moment, in dem man zusammen im Bett liegt, werden die Menschen schöner“, findet er.
Für die gemeinsame Zeit verlangt Thomas 200 Euro, das sei noch eher günstig. „Dabei bekomme ich oft das Feedback, die Zeit mit mir sei unbezahlbar.“ Erst grinst er, dann wird seine Miene ernst. „Es ist auch eine Frage, wer sich das leisten kann. Wer in einer Behindertenwerkstatt einen Euro am Tag verdient, muss lange sparen“, sagt er. Krankenkassen übernehmen keine Kosten für Sexualbegleitung, auch wenn das immer wieder in der Diskussion steht. Weil es sich nicht um eine medizinisch notwendige Heilbehandlung handelt, müssen die Kosten selbst getragen werden, so Christian Arns von der Debeka.
Vor dem Gesetz gilt Thomas als Sexarbeiter. Ihm ist aber wichtig klarzustellen: „Ich verkaufe nicht meinen Körper. Ich verkaufe eine Dienstleistung.“
Und was, wenn sich eine verliebt?
Seine weiblichen Kolleginnen haben es damit schwerer als er, erzählt er. „Sie werden oft mit Stigmata und Vorurteilen konfrontiert.“ Er selbst bekomme eher auf die Schulter geklopft. Sex sieht er als Grundbedürfnis. Eines, für das man Geld bezahlen kann. Trotzdem, Gefühle können auch dabei entstehen. Thomas nimmt in Kauf, dass sich seine Klient:innen in ihn verlieben, das sei schon häufig vorgekommen. „Beim ersten Treffen stelle ich immer klar, dass es niemals etwas anderes sein wird als eine Dienstleistung“, sagt er.
Private Sexualität fühle sich für ihn ganz anders an als die berufliche. Es gehe dabei nicht um seine, sondern um die Bedürfnisse seiner Klienten und Klientinnen. Seine Freundin und seine Tochter akzeptieren seinen Beruf. „Sie nehmen mich wie ich bin“, sagt er.
Kondome, Lecktücher und „Magic Pills“
Dann sieht er auf die Uhr, steht auf und holt sein „Zauberköfferchen“. Darin ist alles, was er für die Zeit mit Hannah, die er heute zu Hause besucht, brauchen könnte. Kondome, Lecktücher, eine Dose mit „Magic Pills“. „Das sind Pfefferminzbonbons“, lacht er. Für Notfälle hat er aber auch andere Pillen, also Viagra, dabei. „Ich muss aber fast nie mit Chemie nachhelfen“, sagt Thomas.
Im Auto klemmt er sein Navi in die Halterung und gibt Hannahs Adresse ein. Knapp achtzig Kilometer fährt er zu ihr, für seine Arbeit ist er in ganz Nordrhein-Westfalen unterwegs. Am Spiegel baumelt ein Traumfänger. Auf einem geraden Stück Straße sagt Thomas, jetzt sei ein guter Moment, um zu beten. Das macht er als Ritual vor allen Treffen. „Liebes Universum“, beginnt er. „Ich danke dir für diesen wunderschönen Tag und für mein Leben.“ Diese Worte hat Thomas schon oft gesprochen. „Ich bitte dich auch heute bei Hannah, dass ich das mache, was auf ihrem Weg richtig ist. Dass dein Wille geschehe. Amen“, schließt er. Meist fühle er eine freudige Erwartung vor den Treffen, nervös sei er kaum noch. „Gerade wenn das tolle Menschen sind.“ Dann macht er eine Pause. „Aber die meisten Menschen sind toll.“
Er erzählt, dass schon häufig Frauen zu ihm gekommen seien, die noch nie sexuellen Kontakt hatten. „Ich biete einen sicheren Raum, in dem man alles ausprobieren kann“, sagt er. Das erste Mal mit jemandem zu erleben, sei immer etwas besonderes.
Nach etwa einer Stunde Fahrt parkt er hinter dem Haus, in dem Hannah lebt. Auch wenn sie eine feste Verabredung haben, sei das, was geschieht, immer spontan. Einer seiner liebsten Momente sei es, nach dem Sex Arm in Arm dazuliegen. „Dann ist die Seele offen. Oft werden mir dann sehr persönliche Dinge erzählt“, so Thomas.
Als er die Treppe hinaufgeht, wartet Hannah schon in der Tür. Ihre Wohnung ist bunt eingerichtet, an den Decken hängen Tücher, an den Wänden selbstgemalte Bilder, auf dem Balkon eine buddhistische Gebetsfahne. Hannah sitzt im Rollstuhl, sie trägt ein gemustertes Kleid, dazu eine gelbe Strumpfhose. Auf ihren Augenlidern schimmert fliederfarbener Lidschatten. Zur Begrüßung umarmen sie sich lange.
Küssen, lachen, streicheln
„Ich freue mich, dass er da ist. Aber ich bin auch ein bisschen aufgeregt“, erzählt sie. Die Treffen mit Thomas seien für sie wie eine Auszeit. „Auch wenn ich mir einen festen Partner wünsche, kann es auch schön sein, wenn jemand alle zwei Monate kommt, man schöne Stunden miteinander hat und er wieder geht“, sagt sie. Dann gehen sie ins Schlafzimmer. Auch Hannah hat einen Traumfänger, er baumelt über dem Bett. Thomas setzt sich auf die Bettkante und legt seine Stirn an Hannahs. Die zwei Stunden Intimität beginnen. „Ich küsse dich heute nicht auf den Mund, ich bin ein bisschen erkältet“, flüstert Thomas. „Oh“ murmelt Hannah. Dann hilft er ihr aufs Bett, beide lachen, schauen sich in die Augen. Von Hannahs Nervosität ist nichts mehr zu spüren. Thomas beginnt über ihre Beine zu streicheln.
Zwei Stunden später zieht Thomas sein Sweatshirt wieder über den Kopf und steigt in seine Cowboy-Boots. Der Lidschatten auf Hannahs Augen ist verschwunden. Beide sehen entspannt aus, lächeln. „Es war schön“, sagt Hannah. Thomas wartet, lässt immer zuerst Hannah sprechen. „Sehr intensiv für Herz und Haut“, fügt er dann hinzu. Was genau die beiden gemacht haben, behalten sie für sich.
Hannah spart zwei bis drei Monate auf Thomas
Thomas zu bezahlen, findet Hannah nicht mehr komisch. „Ich weiß ja, dass er das Geld bekommt. Das ist normal“, sagt sie. Zwei oder drei Monate spart sie für die Treffen mit Thomas. Dafür hat sie einen Plan aufgestellt, wann sie Geld, was sie bei ihrer Arbeit im Büro einer Behindertenwerkstatt verdient, zur Seite legen muss.
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„Die Scheine sind nie frisch aus dem Automaten, sondern immer ein bisschen zerknittert. Dass das so persönlich ist, finde ich schön“, sagt Thomas. Die Geldübergabe macht er immer in bar, als symbolischen Akt.
Zur Verabschiedung umarmt Thomas Hannah noch einmal. „Bis bald“ flüstert er in ihre roten Haare und wirft ihr einen Luftkuss zu, bevor er die Tür öffnet. Daneben hängt ein Schild, das Hannah aufgehängt hat. Darauf steht: „Hier wohnt das Glück.“