Auch die Olympia-Vierte von 2012, Janine Berger, wirft dem deutschen Turnsystem Machtmissbrauch vor. Sie selbst ist in Therapie.
„Einfach krank“Spitzenturnerin berichtet über Missbrauch und erzählt, wie sie gebrochen wurde
In der Debatte um die Missstände am Bundesstützpunkt Stuttgart hat die frühere Spitzenturnerin Janine Berger den Deutschen Turner-Bund (DTB) scharf kritisiert. „Dass im deutschen Turnen Missstände herrschen, ist intern schon lange klar. Es tut mir in der Seele weh und macht mich gleichzeitig wütend zu sehen, dass viele Talente weiterhin psychisch und physisch kaputt gemacht werden und das muss endlich ein Ende haben. Es geht um Kinder“, sagte die Olympia-Vierte von 2012 im Interview mit der „Augsburger Allgemeinen“.
Es seien intern einige Gespräche geführt worden, die „die Missstände aufzeigen, aber wirklich ernst genommen wurde es nicht, im Gegenteil: Es wurde einfach unter den Tisch gekehrt und geraten, nichts zu sagen“, meinte Berger, die für den SSV Ulm turnt.
Janine Berger über Missbrauch am Bundesstützpunkt Stuttgart: „Einfach krank“
Angeführt von den früheren Auswahl-Turnerinnen Tabea Alt und Michelle Timm hatten zuletzt mehrere Sportlerinnen Missstände am Stützpunkt in Stuttgart öffentlich gemacht. Angeprangert wurden unter anderem „systematischer körperlicher und mentaler Missbrauch“. Auch aktive Sportlerinnen äußerten sich.
Die 28 Jahre alte Berger attestiert dem deutschen Turnen einen Systemfehler. „Uns wurde eingebläut, Schmerzen zu ignorieren und den Mund zu halten. Und wir reden hier nicht über kleine Wehwehchen. Damit meine ich gebrochene Knochen, gerissene Bänder und gravierende Verletzungen. Dir wird eingetrichtert, dass du dir alles nur einbildest oder lügen würdest“, erklärte Berger.
An einen Moment im Jahr 2013 könne sie sich noch ganz genau erinnern. Damals habe Berger einen Brief erhalten, in dem stand, dass sie „vom B- in den A-Kader aufgestiegen“ sei. „Im nächsten Satz folgt, dass meine monatliche finanzielle Förderung aufgrund meines Gewichtes und meiner Trainingseinstellung ausgesetzt werde“, so die Turnerin weiter.
Sie habe zu dieser Zeit einen Körperfettanteil von neun Prozent gehabt. „Das Geld zu streichen, obwohl ich im A-Kader war und neun Prozent Körperfettanteil hatte, ist einfach krank und hat nichts mit hartem Training zu tun!“
Sie selbst ist seit einigen Jahren in Therapie. „Wer über so viele Jahre so tief in einer Essstörung gesteckt und mit Depressionen gekämpft hat, weiß, dass es lange Zeit braucht, bis man diesen Kampf gewinnt“, erzählte Berger. „Wenn dir jahrelang gesagt wurde, dass du nur etwas wert bist, wenn du Leistung bringst und du immer damit beschäftigt warst, möglichst viel abzunehmen, indem du dich übergibst, dann hinterlässt das körperliche und seelische Spuren, mit denen ich heute noch zu kämpfen habe.“
Janine Berger berichtet über aufgrund von Missbrauch entwickelter Essstörung
Berger hatte zuletzt bei Instagram scharfe Kritik am deutschen Turnsystem geäußert und ihm Machtmissbrauch sowie ein systematisches Drängen in eine Essstörung vorgeworfen. „Ich konnte nie dünn genug sein und es wurde mir systematisch eingetrichtert, dass Essen schlecht sei“, schrieb sie. Sie sei dreimal täglich gewogen worden. Habe sie nur 200 Gramm zu viel auf der Waage gehabt, habe man ihr unabhängig von der Leistung mit dem Ausschluss von Wettkämpfen oder Trainingslagern gedroht.
Berger erscheint es rückblickend so, „dass das Ziel verfolgt wurde, Turnerinnen systematisch kaputtzumachen und ihren Willen zu brechen“, schrieb sie. Ihr Rückschluss: „Sagt man als Athlet etwas, ist man raus.“
Der Deutsche Turner-Bund und der Schwäbische Turnerbund haben inzwischen eine Untersuchung angekündigt, zudem gab es Anfang Januar erste personelle Konsequenzen. Zwei Übungsleiter wurden vorläufig bis zum 19. Januar freigestellt.
Auch der DOSB forderte eine Aufklärung des Skandals von Stuttgart. „Diese Situation zeigt einmal mehr, wie wichtig die Verabschiedung des Safe Sport Codes durch die DOSB-Mitgliederversammlung war und wie wichtig eine zügige Umsetzung in den Mitgliedsverbänden und Strukturen des organisierten Sports ist“, erklärte der nationale Dachverband.
Die Missbrauchsvorwürfe rund um das Stuttgarter Kunstturnforum ziehen indes auch politische Kreise. Die Grünen im Stuttgarter Gemeinderat fordern laut Stuttgarter Nachrichten eine „zügige Klärung, wie die Stadt zur unverzüglichen Beseitigung der Missstände beitragen kann“. Außerdem solle die Förderpraxis auf den Prüfstand gestellt werden. (pst mit dpa)