Wie es ist, ein Auge zu verlieren„Ich bin die Millionste auf dem Beipackzettel“
- In unserer Serie „Wie es ist“ erzählen Menschen von einem außergewöhnlichen Schritt in ihrem Leben, einem außergewöhnlichen Hobby, einer Eigenschaft oder einem Beruf.
- In dieser Folge spricht Antje Schmitz aus Bergisch Gladbach darüber, wie es ist, als junger Mensch ein Auge zu verlieren.
- Von Nebenwirkungen eines Medikaments sind nur sehr wenige Menschen betroffen - Antje Schmitz zählt dazu.
Ich bin die Millionste auf dem Beipackzettel. Betroffen von einer Nebenwirkung, die irgendwo als Möglichkeit aufgeführt wird, mit der aber niemand wirklich rechnet. Die Ärzte haben das mehrfach als Sechser im Lotto bezeichnet, der Wahrscheinlichkeit wegen. So ein Lottogewinn wäre mir allerdings lieber gewesen als ein blindes Auge.Im Mai 1993, ich war gerade 20 Jahre alt geworden und im Vorpraktikum zur Erzieherinnen-Ausbildung, bin ich morgens aufgewacht und konnte nicht mehr richtig sehen. Es stellte sich heraus, dass ich im linken Auge eine Venenthrombose erlitten hatte. Ich war zum damaligen Zeitpunkt ein kerngesunder, junger Mensch, normal sportlich, keine Risikofaktoren. Das Einzige, das ich wie viele junge Frauen gemacht habe: Ich nahm die Antibaby-Pille.
Die Ärzte sagten, ich sei zu jung dafür
Im Krankenhaus habe ich Blutverdünner bekommen – und konnte wieder sehen. Ich dachte: Was für ein Schreck. Aber jetzt ist ja alles wieder gut. Leider ging es weiter. Ich bekam noch eine zweite und dritte Thrombose und konnte schließlich endgültig nichts mehr auf dem linken Auge sehen. Die Ärzte haben es nicht verstanden, die haben mir immer gesagt: Sie sind zu jung dafür. Wenn Sie 70 oder 80 Jahre alt wären, aber mit 20 bekommt man das eigentlich nicht. Es wurde dann wild spekuliert, ob ich MS hätte, einen Gehirntumor, sonst irgendeine schlimme Krankheit. Man fand aber nichts.Und dann gab es diese Checkliste. Übergewichtig? Nein. Extremsportler? Nein. Viel Alkohol? Nein. Rauchen? Nein. Und so weiter. Irgendwann: Nehmen Sie die Pille? Ja. Ach so. Da steht ja auf dem Beipackzettel, dass sich das Risiko für eine Thrombose erhöht. Ich bin also die Millionste auf dem Beipackzettel. Der Fall, den es eigentlich nicht gibt. Die Pille habe ich sofort abgesetzt und nie wieder genommen.
Bei mir ging damals natürlich das Kopfkino los. Ich hatte ein Auge verloren – und was war mit dem zweiten? Ich war 20 und hatte noch gar nicht richtig gelebt. Ich hatte natürlich Angst, dass mir das auch mit dem anderen Auge passiert. Die Ärzte sagten: Nein, das gibt es nicht, sie sind zu jung. Aber es war ja passiert. In der Folge bekam ich Grünen Star, meine Netzhaut wurde angegriffen, die Hornhaut, der Sehnerv, dazu bekam ich einen Dauerkopfschmerz.
Nach der zweiten OP wurde es ruhig
Nach etwa zwei Jahren wurde ich in Köln von Professor Kirchhoff operiert und habe Silikon ins Auge bekommen. Beim ersten Mal hat es nicht lange gehalten, aber seit der zweiten OP ist es ruhig. Das Auge ist innen mit Silikon gefüllt, außen ist es noch meins. Es ist etwas kleiner als das andere, aber es schrumpft nicht mehr. Man sieht den Unterschied zum anderen Auge, die Iris ist nicht mehr da, es ist nicht braun, sondern schimmert bläulich und wird immer trüber. Ich könnte eine Augenprothese einsetzen, dann sähe das linke Auge genauso aus wie das gesunde rechte. Aber ich hatte immer Probleme damit, mein Körper hat die Prothese nicht akzeptiert.
Kinder sind immer direkt
Ich arbeite im Kindergarten – und Kinder sind nun mal extrem direkt. Ich wurde also von Anfang an immer auf mein Auge angesprochen. Darüber habe ich gelernt, offen und ehrlich damit umzugehen. Das hat mir gutgetan. Heute ist es kein Makel mehr für mich, sondern eine Besonderheit. Meine Besonderheit, die mich einzigartig macht.
In Watte gepackt werden - das wollte ich
Damals fühlte ich mich aber eine Zeit lang wie der ärmste Mensch auf der Welt, alles Leid lag auf meinen Schultern, niemandem ging es so schlecht wie mir. Ich hatte viel Angst. Und ich wurde wie ein rohes Ei behandelt. Alle nahmen Rücksicht auf mich. Ich wurde in Watte gepackt. Und ich wollte das auch. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich den ganzen Tag im Bett gelegen, Rollos runter, meine Eltern bedienen mich.Doch irgendwann hat mich mein Vater auf den Pott gesetzt. Er ist ein sehr warmherziger Familienmensch, wie meine Mutter und meine Schwester tut er bis heute alles für mich, ich habe immer eine wahnsinnige Unterstützung bekommen. Aber damals sagte er: Das, was dir passiert ist, ist schrecklich, du hast alles Recht, dich zu bemitleiden. Aber was bringt dir das? Ist das das Leben, das du willst? Ich war erstmal megabeleidigt, dass er so mit mir sprach. Aber er hatte ja recht. So habe ich es geschafft, mit meiner Ausbildung weiterzumachen.
Und dort hatte ich eine Freundin, die mich nicht in Watte packte. Im Gegenteil: Bis heute zieht sie mich mit meinem blinden Auge auf. Mein Schicksal bekam eine Leichtigkeit, die mir half. Wir haben Späße über das Auge gemacht, nach dem Motto: Auch ein halbblindes Huhn findet mal ein Korn. Ich kann nicht mehr so einfach ein Glas Wasser eingießen oder Bälle fangen, weil mir das räumliche Sehen fehlt. Ramona hat mich nie bemitleidet, sondern immer deswegen geneckt. Sie macht auch so Sachen, dass sie mich mit einem Stift in die linke Wange piekst und sagt: Ich wollte mal gucken, ob du wirklich nichts siehst.
Warum ich heute im Reinen bin mit dem, was mir passiert ist, hat aber auch mit einem Erlebnis in der Klinik in Essen zu tun. Dort traf ich einen Jungen, er war vielleicht elf oder zwölf Jahre alt, der Verbrennungen im ganzen Gesicht hatte. Er lief über das Krankenhausgelände und lachte. Da dachte ich: Wer bist du, dass du dich über ein verlorenes Auge aufregst? Dieses Kind muss unvorstellbare Schmerzen erlitten haben – und lacht. Und du jammerst, obwohl du eine tolle Familie, super Freunde, eine Ausbildung hast. Das war für mich der Wendepunkt. Da habe ich gesagt: Jetzt ist Schluss mit Jammern.
Antje Schmitz aus Bergisch Gladbach ist 49 Jahre alt, verheiratet, Mutter einer neun Jahre alten Tochter und arbeitet als Erzieherin.
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