AboAbonnieren

Yuval Noah Harari über die Corona-Krise„Die Überwachung geht förmlich unter die Haut”

Lesezeit 10 Minuten

Der Bestsellerautor und Zukunftsforscher Yuval Noah Harari beobachtet eine tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft und der Überwachung durch die Corona-Krise. 

  1. Der israelische Zukunftsforscher Yuval Noah Harari hat mehr Angst vor den politischen Konsequenzen als vor der Corona-Epidemie an sich.
  2. Der Bestsellerautor („Homo Deus”) spricht im Interview über die langfristigen Folgen der Corona-Pandemie für die Weltordnung, die Gefährlichkeit von Trump und drohende langfristige Überwachungs-Szenarien.

Schön, Sie zu sprechen, Professor Harari, wir befinden uns ja zurzeit in dramatischen Zeiten. Wie lebt es sich mit den Restriktionen?

Ja, das ist eine dramatische Zeit. Mein Mann und ich leben zu Hause in Tel Aviv. Wir gehören zu den Glücklichen, die ihre Jobs nicht verloren haben und arbeiten können. Aber wir haben Freunde, die nun arbeitslos sind oder um ihre Geschäfte fürchten müssen. Wir sind uns also der Schwierigkeiten sehr bewusst, die dieses Virus der Welt derzeit bereitet.

Als Historiker haben Sie die Aufgabe, tief in die Vergangenheit zu blicken. Was glauben Sie, wird die Corona-Krise eines Tages als eine bloße Fußnote unserer Geschichte angesehen werden oder als das am stärksten unser Jahrhundert formende Ereignis überhaupt?

Das hängt von der Zeitskala ab, die Sie hierfür heranziehen. Wenn Sie damit tausend und Abertausende Jahre meinen, dann wird das gewiss nur eine Fußnote gewesen sein. Wenn Sie aber über unsere persönliche Lebenszeit sprechen, dann ist es ganz gewiss eines der bedeutendsten Ereignisse unseres Lebens. Sogar meine Großmutter, die jetzt 98 Jahre alt ist, hat eine derartige Krise nie durchgemacht.

Steuern wir unaufhaltsam in eine neue Epoche?

Das Wichtigste, was man sich bei der gegenwärtigen Krise bewusst machen muss, ist, dass sie nicht deterministisch ist. Sie folgt also keinem vorgegebenen Skript, so dass die Dinge zwangsläufig geschehen. Nein, es beruht alles auf der Wahl, die wir treffen – und zwar auf allen drei Feldern: ökonomisch, politisch und auch technologisch. Eine Sache ist jedoch gewiss: Die technologische Entwicklung wird beschleunigt. Wir werden in einer anderen Welt leben, wenn die Krise vorbei ist. Wir sehen gerade eine starke Zunahme der Teilhabe an der Digitalisierung. Die aktuelle Krise verstärkt jetzt einen Trend, der vor einigen Jahren bereits eingesetzt hat. Viele Dinge, die sonst in der physischen Welt stattfanden, sind nun in die digitale Welt hinübergewandert. Das hat natürlich auch ein positives Potenzial. Es versetzt uns auch während eines Lockdowns in die Lage, isoliert zu arbeiten und miteinander zu interagieren. Im Homeoffice entgeht man dem Straßenverkehr, der Luftverunreinigung, es gibt Vorteile, aber auch Probleme und Gefahren.

Das könnte Sie auch interessieren:

Welche Gefahren drohen?

Fangen wir mit Dingen an, die den Arbeitsmarkt und die Rechte von Arbeitern betreffen. Durch Homeoffice-Arbeit könnten Gewerkschaften und Arbeitnehmerrechte untergraben werden. Die Unternehmen machen sich einfach die Arbeitsplätze in den privaten Häusern zunutze, ohne für Kosten aufzukommen. Wenn ich von zu Hause arbeite, dann bezahle ich die Stromrechnung, fürs Saubermachen, für das Essen, einfach für alles. Alle im Haus, Partner oder Kinder, müssen ruhig sein, weil ich ja arbeite.

Welche Gefahren drohen uns durch die Pandemie?

Ich denke da an ein mögliches Überwachungsregime, das sich im Kampf gegen die Epidemie etablieren könnte. So etwas kann sich auch in demokratischen Gesellschaften herausbilden. Die Natur der Überwachung verändert sich gerade. Sie geht förmlich unter die Haut. Regierungen können jetzt allgegenwärtige Sensoren und allmächtige Algorithmen nutzen, um die Bürger zu überwachen. Das fängt mit der Gesundheitskontrolle an, wenn die Körpertemperatur angestiegen ist; was passiert dann mit dem Blutdruck, mit dem Herzen? Dadurch erhält man Anzeichen, ob jemand krank ist oder nicht. Wenn wir über die richtigen Überwachungsmittel verfügen, lässt sich nicht nur feststellen, ob einer krank, sondern ob er wütend, glücklich oder besonders an einer Person interessiert ist. Das sind ganz neue Dimensionen.

Welche Beispiele stehen Ihnen vor Augen?

China hat es vorgemacht. Mit dem Monitoring aller Smartphones griff die chinesische Regierung auf Millionen von Kameras mit Gesichtserkennung zu und zwang die Leute, ihre Körpertemperatur und ihren Gesundheitszustand zu melden. Die Behörden konnten so nicht nur Verdachtsfälle von Virusträgern erkennen, sondern alle ihre Bewegungen und alle ihre Kontaktpersonen festhalten. Mehrere Apps warnten Bürger vor dem Kontakt mit infizierten Personen. Die Technik macht es heute zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte möglich, alle Leute permanent zu überwachen. Wenn wir nicht auf der Hut sind, könnte diese Krise eine wichtige Wende, eine Scheidelinie in der Geschichte der Überwachung bedeuten.

Wir haben in der Tat wichtige Entscheidungen zu treffen: Die von Ihnen genannte zwischen totalitärer Überwachung und Bürgerrechten. Aber auch die zwischen nationalistischer Isolation, die wir gerade sehr genau beobachten können, und globaler Solidarität. Was erwartet uns im internationalen System?

Was wir in den letzten Monaten hauptsächlich gesehen haben, ist der Aufstieg eines nationalistischen Isolationismus. Es bestehen einige internationale Kooperationen fort, etwa innerhalb der Europäischen Union und auch auf globaler Ebene, vor allem wenn es um die wissenschaftlichen Bemühungen geht, die Pandemie zu verstehen oder Gegenmittel zu entwickeln. Aber auf dem politischen und ökonomischen Feld gibt es kaum Zusammenarbeit. Die internationale Kooperation ist schlecht.

Der Weg in die Isolation ist eine Sackgasse?

Globale Kooperation wäre wichtig für die Zukunft. Dabei geht es nicht nur um die gegenwärtige Krise, sondern auch um die Zeit danach, um eine bessere Welt zu schaffen. Nicht nur im Hinblick auf künftige Epidemien, gegen die wir besser miteinander vorgehen müssen. Auch der Klimawandel bleibt ein Thema, ebenso die immer noch existierende Gefahr eines Atomkrieges oder das Aufkommen gefährlicher Technologien wie autonome Waffensysteme oder künstliche Intelligenz. Ich hoffe inständig, dass wir wieder eine stärkere globale Zusammenarbeit erleben werden. Die Schlüsselerkenntnis ist doch, dass es gar keinen Widerspruch zwischen globaler Kooperation und nationaler Loyalität geben muss.

Wie erleben Sie da gerade die Politik der Weltmacht USA?

Sie ist überhaupt nicht gut. Die USA, die in den vergangenen Jahrzehnten die Rolle eines globalen Leaders innehatten, haben sich im Jahr 2016 zurückgezogen. Das ist schlimm, weil wir eine globale Führung brauchen. Aber damit nicht genug, die Vereinigten Staaten untergraben sogar noch die internationale Zusammenarbeit. Wenn US-Präsident Donald Trump inmitten der Pandemie die Zahlungen an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einstellt, ist das ein ziemlich offensichtliches Beispiel für die Kapitulation vor der Verantwortung. Trump sucht ganz offensichtlich einen Schuldigen für das Desaster, das er in Bezug auf die Epidemie in den USA zu verantworten hat. Gewöhnlich sind das bei ihm die Ausländer, nun beschuldigt er eben die WHO. Unverantwortlich, so etwas inmitten einer Pandemie zu tun! Denn das betrifft alle Menschen weltweit, besonders in den armen Ländern, die darauf vertrauen, von der WHO mit überlebenswichtigen Daten versorgt zu werden. Die USA können Statistiken für sich selbst erheben, aber Länder wie Ecuador oder Bangladesch haben nicht die Ressourcen dafür. Kommt noch hinzu, dass die USA die WHO diskreditieren, so dass die Menschen ihr Vertrauen in sie verlieren. Das ist extrem gefährlich.

Zur Person

Yuval Noah Harari, geboren 1976, ist Professor für Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem. Er hat sich auf Universalgeschichte spezialisiert und schreibt eine regelmäßige Kolumne in der israelischen Tageszeitung „Haaretz“. Er ist einer der gefragtesten Autoren der Welt.

Zuletzt erschien von ihm: „Fürsten im Fadenkreuz. Geheimoperationen im Zeitalter der Ritter 1100–1550“, C.H. Beck, 347 Seiten, 26,95 Euro.

Von ihm stammt auch:

„21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“, C.H. Beck, 459 Seiten, 24,95 Euro. „Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen“,

C.H. Beck, 576 Seiten, 24,95 Euro.

Wird das internationale System nach der Krise anders aussehen, etwa mit China als Weltmacht anstelle der USA?

China könnte das Vakuum füllen, das die USA hinterlassen. Aber es gibt auch andere Szenarien, vielleicht wird auch die Europäische Union aktiver werden und eine führende Rolle einnehmen. Nicht allein damit, den EU-Mitgliedern zu helfen, sondern auch andere Nationen zu unterstützen, die an der Peripherie der EU liegen. Etwa die Ukraine, deren Ökonomie gerade zusammenbricht – für Russland ein Riesengewinn. Auch in Afrika könnte sich die Europäische Union stärker engagieren. Wenn die Länder dort kollabieren, droht eine neue Migrationsbewegung nach Europa. Es liegt also im europäischen Interesse zu handeln und Verantwortung zu übernehmen.

Waren der Aufstieg und Fall von Großreichen auch von Epidemien abhängig. Hat also die Krankheit Geschichte gemacht?

Ja, absolut. Krankheit und Gesundheit haben in der Geschichten einen extrem wichtigen Part gespielt in der Entwicklung von Staaten und Regierungen, besonders in der modernen Welt. In der meisten Zeit der Geschichte waren Regierungen angesichts von Epidemien vollkommen hilflos. Erst ab dem 19. Jahrhundert haben Regierungen auf die Entwicklungen der Wissenschaft zurückgegriffen. Sie verstanden nun erst, wie man Krankheiten eindämmt oder bekämpft. Sie haben sanitäre Anlagen verbessert, die Wasserversorgung verbessert und das Gesundheitssystem allen zugänglich gemacht. Und Bildung spielte eine enorme Rolle. Das spielt eine große Rolle für die Ausbildung der Nationalstaaten. Das Vertrauen der Menschen in den Staat wuchs damit erheblich. Sie waren daher viel williger, dem Staat zu dienen, wie etwa im Militär. Millionen starben im Ersten Weltkrieg, weil sie glaubten, ihren Staat verteidigen zu müssen, der all diese Leistungen für sie bereithielt. Und tatsächlich wurden viel mehr Menschen durch die Gesundheitssysteme Frankreichs, Deutschlands oder Großbritanniens gerettet, als im Ersten Weltkrieg ums Leben kamen. Der Nutzen der Gesundheitssysteme inspirierte die Menschen, sich für ihre Staaten einzusetzen und ihnen Loyalität zu zollen. Vorher existierte das nicht so. Im 17. Jahrhundert weigerten sich die Menschen noch, für die französische Armee zu kämpfen.

Hat sich unsere Sichtweise auf den Tod verändert im Laufe der Geschichte? Früher machte man Gott für Epidemien verantwortlich, heute sind es Regierungen.

Krankheiten gelten nicht einfach nur als natürliche Ereignisse, gegen die man nichts tun könnte. Sie sind keine Strafe Gottes mehr, sondern etwas, das unter menschlicher Kontrolle steht. Wir sind nicht allmächtig und können nicht alles von der Welt fernhalten. Aber wenn es eine Epidemie gibt, dann ist es menschliches Versagen. Irgendwer hat einen großen Fehler gemacht, wenn es sich überall ausbreitet. Einige Länder wie Neuseeland oder Griechenland haben sehr geringe Infektionsraten, anders die USA, Spanien, Italien. Die Menschen sagen nicht: Gott straft die USA, sondern es sind politische Entscheidungen und die Menschen reagieren mit Wut auf falsche Entschlüsse ihrer Politiker.

Was passiert aber, wenn die Regierungen mit ihren Maßnahmen scheitern und in ihren Ländern wirtschaftliche Depression herrscht? Droht dann die Gefahr einer neuen Welle des Faschismus wie in den 1930er Jahren?

Ja, das ist gewiss eine Gefahr. Wenn wir eine große ökonomische Krise haben und die Regierungen darauf keine effiziente Antwort finden, kann das Populisten und auch Faschisten in die Hände spielen. Die gegenwärtige Krise ist nicht einfach eine Gesundheitskrise, sondern auch eine ökonomische, letztlich politische Krise. Ehrlich gesagt, habe ich mehr Angst vor den politischen Konsequenzen als vor der Epidemie an sich. Ich denke, dass wir mit dem Virus umgehen können. Wir verfügen über das Wissen, das Virus einzudämmen und auch die Epidemie in den Griff zu bekommen. Das wirkliche Problem ist die innere Dimension des Menschen an sich. Wenn die Menschen auf die Krise mit Hass reagieren, andere als Schuldige hinstellen – Ausländer oder Minderheiten, macht es das viel schwieriger, mit der Epidemie fertigzuwerden. Das wäre ein vergiftetes politisches Vermächtnis der Epidemie.

Wer wird am Ende stärker sein: der Mensch oder das Virus?

Wir sind offensichtlich viel stärker als das Virus. Wir können kooperieren, während das Virus es nicht kann. Das ist ein riesiger Vorteil. Wenn wir davon keinen Gebrauch machen, verlieren wir.

Das Gespräch führte Michael Hesse