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1,5 Jahre Krieg gegen Ukraine„Viele Kinder haben Panikattacken“ – Protokoll einer Mutter aus Dnipro

Lesezeit 8 Minuten
Scene in Ukraine Children look at an apartment building struck by a missile in Dnipro on Jan. 17, 2023, amid Russia's war on Ukraine.

Im Januar 2023 wurde ein großes Wohnhaus in Dnipro getroffen. Viele Menschen starben auch Kinder.

Vor 1,5 Jahren begann Russland seinen Angriffskrieg. Wie ist der Alltag in der Ukraine? Wir haben mit einer Mutter aus Dnipro gesprochen.

Inna K., 46, lebt seit vielen Jahren in Dnipro, Kölns Partnerstadt. Dnipro liegt in der zentralöstlichen Ukraine und hat rund eine Million Einwohner. Seit Beginn des Krieges, dessen Frontlinie nur 100 Kilometer entfernt ist, wird die Metropole immer wieder von russischen Angriffen erschüttert, zahlreiche Menschen kamen bereits ums Leben – darunter auch viele Kinder.

Innas 14-jährige Tochter ist derzeit im Rahmen eines Schüleraustauschs in Köln. Wir wollten von der Mutter wissen, wie sich das Leben in einer Stadt anfühlt, in der man täglich auf das Schlimmste vorbereitet sein muss und was dies besonders mit den Kindern und Jugendlichen macht.

Wir protokollieren ihren Bericht, in dem sie auch davon erzählt, wie sie den Beginn des Krieges erlebt hat. Entgegen dem Strom der Flüchtenden reiste sie vor eineinhalb Jahren unter dramatischen Bedingungen zurück in die Ukraine.


Kriegsausbruch: „An den 24. Februar 2022 erinnere ich mich sehr genau“

Seit Januar 2022 gab es bei uns immer häufiger Medienberichte, dass ein Krieg ausbrechen könnte. Aber weder ich noch meine Freunde glaubten, dass die ganze Ukraine angegriffen werden könnte. An den seit 2014 herrschenden Krieg im Donbass hatten wir uns schon fast gewöhnt. Ich habe Verwandte dort, seit acht Jahren haben wir uns nicht mehr gesehen. Manchmal rufen wir uns über das Internet an.

Am 20. Februar 2022 sind meine Tochter und ich ins Ausland gereist, um meinen Schwiegervater zu besuchen. An den 24. Februar erinnere ich mich sehr genau. Ich wurde gegen 5 Uhr von meinem Handy geweckt. Es gab viele Nachrichten in den Chats aus der Heimat: „Wir werden bombardiert, der Krieg hat begonnen!“. Ein paar Minuten später rief mein Mann an fragte: „Hast du die Nachrichten bekommen, weißt du es schon?“ Wir beschlossen, dass wir die Situation erst einmal beobachten würden.

„Ich habe in ein paar Tagen vier Kilo abgenommen“

Mein Schwiegervater, bei dem wir gerade waren, ist 78 Jahre alt, er hatte Tränen in den Augen. Wir standen unter Schock, wir konnten nicht glauben, dass das alles tatsächlich passierte. Ich konnte nicht essen und nachts nicht schlafen. Ich nahm in ein paar Tagen vier Kilo ab. Meine Tochter war dagegen ruhig, sie verstand überhaupt nicht, was geschah. Sie hing die ganze Zeit am Handy und tauschte Nachrichten mit Freunden und Klassenkameraden aus.

In den ersten Tagen des Krieges hoffte ich wirklich, dass Russland und die Ukraine sich einigen könnten. Ich wollte unbedingt nach Dnipro zurückkehren, aber ich wusste nicht wie, denn der Luftraum über der Ukraine wurde sofort für die zivile Luftfahrt geschlossen.

Rückreise in die Ukraine „Ich konnte meine Tränen hinter der Maske verstecken“

Wir konnten schließlich von Estland nach Warschau fliegen. Am nächsten Tag fuhren wir mit dem Bus über die ukrainische Grenze bis nach Lviv. Es war sehr beängstigend, weil ich in ein Land reiste, in dem Krieg herrschte, und ich nahm mein Kind mit. Auf einen Zettel schrieb ich die Telefonnummern von Menschen, die mir sehr nahe stehen und denen ich vertrauen kann. Ich gab meiner Tochter den Zettel und sagte ihr: „Wenn unterwegs etwas passiert, kannst du jede Nummer anrufen und man wird dir helfen“.

Ich weinte den ganzen Weg über. Gut, dass die Maskenvorschrift nach Covid noch nicht aufgehoben worden war. So konnte ich mein von Tränen geschwollenes Gesicht verstecken.

„An das Geräusch vom Luftalarm habe ich mich noch immer nicht gewöhnt“

An der Grenze zwischen Polen und der Ukraine erlebte ich einen neuen Schock: Viele Menschen kamen uns zu Fuß entgegen, Kinder, Erwachsene, behinderte Menschen. Auch Tiere wurden mitgenommen. In Lviv hörte ich dann zum ersten Mal die Sirenen eines Luftalarms – sehr verstörend und beunruhigend. Ich habe mich immer noch nicht an dieses Geräusch gewöhnt.

Dnipro mit Fluss. Im Vordergrund sind mobile Schutzräume zu sehen.

Blick über den Fluss auf die Stadt Dnipro. Im Vordergrund sind mobile Schutzräume zu sehen.

Am nächsten Tag, als die Ausgangssperre um 5 Uhr morgens endete, fuhr ich mit einem Freund unserer Familie im Auto die 900 Kilometer nach Dnipro. Und wieder ein neuer Schock: Unzählige Autos waren auf der Autobahn in Richtung Polen unterwegs. Ich sah kaputte Tankstellen und Autos, die zurückgelassen wurden, weil es keinen Treibstoff zum Tanken mehr gab. Ständig mussten wir unsere Papiere zeigen. Auf dieser Fahrt habe ich auch zum ersten Mal einen Panzer gesehen.

Freundin flüchtet mit Kind und Hund aus Mariupol

Zuhause in Dnipro angekommen, konnte ich endlich wieder richtig schlafen, es war ein Gefühl der Freude und Erleichterung. Ein paar Tage nach meiner Rückkehr wurde ich aber nachts von Explosionen geweckt. Ich hatte Angst, dass die Raketensplitter das Dach und die Fenster unseres Hauses treffen könnten. Es war März und draußen war es noch kalt.

In Dnipro gab es viele Flüchtlinge aus anderen Städten. Meine Freundin kam mit ihrem 14-jährigen Sohn und ihrem Hund aus Mariupol zu uns – nur mit einem Rucksack, in dem Dokumente und Hundefutter waren. Wie durch ein Wunder war ihr nichts passiert. Ich konnte ihr zum Glück helfen.

Schulunterricht auf Russisch wurde abgeschafft

Die Kinder in der Schule hatten vom 24. Februar bis zum 8. März 2022 frei. Dann begann Online-Unterricht. Vor dem Krieg war der Unterricht auf Ukrainisch und Russisch. Die meisten Menschen in Dnipro sprechen zu Hause russisch, auch meine Familie. Jetzt wird in der Schule nur noch auf Ukrainisch unterrichtet. Auch viele meiner Freunde versuchen jetzt, nur Ukrainisch zu sprechen, aber das klappt nicht so gut, und manchmal ist es sogar sehr lustig.

Seit dem 1. September gehen die Kinder wieder in die Schule. Die wichtigste Bedingung dafür ist, dass die Schule einen Luftschutzkeller hat. In der Schule meiner Tochter gibt es einen Bunker. Auch die Schüler einer benachbarten Schule kommen zu uns.

Viele Kinder in Dnipro haben Panikattacken

Ich habe zwiespältige Gefühle: Zum einen ist da die Angst als Mutter, ob die Kinder im Angriffsfall den Bunker rechtzeitig erreichen können. Aber der Online-Unterricht vermittelt kein sehr gutes Wissen, und wenn er noch länger anhält, wird es noch schlimmer werden.

Meine Tochter behauptet, sie habe keine Angst, aber ich glaube, sie will mich nur nicht beunruhigen. Immer, wenn sie mit Freunden unterwegs ist, bin ich sehr besorgt, und jedes Mal bei Explosionen spreche ich mit ihr über die Sicherheitsregeln, die hier gelten. Viele von ihren Freunden und Klassenkameraden haben Panikattacken. Jetzt gerade, wo meine Tochter in Köln ist, bin ich viel ruhiger als sonst.

Zum Glück wurden in unserer Straße bisher keine Gebäude zerstört, aber vor zwei Monaten schlug eine Rakete 500 Meter von unserem Haus entfernt ein und fiel auf ein Feld. Ich hatte zum ersten Mal große Angst. Wir haben keinen Schutzraum in unserem Haus, also saßen ich, meine Tochter und der Hund auf dem Boden im Badezimmer.

Wie der Alltag in Dnipro funktioniert

In Dnipro gibt es eine Ausgangssperre von Mitternacht bis 5 Uhr morgens. Die Tankstellen haben Sprit, wobei er sehr teuer geworden ist. Apotheken, Krankenhäuser, Supermärkte, Beauty-Salons und sogar Kinos sind geöffnet. Der Film wird während eines Luftangriffs einfach unterbrochen. Viele Modegeschäfte, besonders die großen Ketten wie Zara, Massimo Dutti oder Benetton haben aber geschlossen.

Direkt nach Kriegsbeginn war die Versorgung schwierig. Konserven, Eintopf, Mehl, Zucker, und Müsli waren ausverkauft. Jetzt gibt es alles wieder, aber natürlich ist es viel teurer als vor dem Krieg. Das Gleiche gilt für Medikamente.

Schulklasse: „Jetzt sind es noch 18, der Rest ist weg“

Fast alle meine Freunde mit Kindern und einige mit ihren Ehemännern (ich weiß nicht, wie die Männer das geschafft haben) sind jetzt nach Polen, Deutschland, Italien, Frankreich, Lettland und England gegangen. Vor dem Krieg waren 36 Kinder in der Klasse meiner Tochter, jetzt sind es noch 18, der Rest ist weg.

Etwa 80 Prozent der Männer sind aber in Dnipro geblieben. Der Vater einer Klassenkameradin meiner Tochter hat gekämpft. Er ist auf eine Mine getreten. Gott sei Dank hat er überlebt! Das Mädchen hat bei uns gelebt, damit ihre Mutter beim Vater im Krankenhaus bleiben konnte.

Enge persönliche Verbindungen nach Russland

Ich habe Verwandte und Freunde in Moskau, wie viele aus meinem Umfeld auch. Natürlich stehe ich mit ihnen in Kontakt. Meine russischen Verwandten sind sehr besorgt um mich und meine Familie. Sie haben keinen Hass und keine Wut auf die Ukrainer, und das war auch vor dem Krieg nicht der Fall. Sie wünschen sich einfach nur Frieden.

Stromausfall im Winter in Dnipro

Im letzten Winter hatten wir jeden Tag für fünf bis sechs Stunden keinen Strom. Da die Stromnetze wegen der Schäden überlastet waren, gab es einen Abschaltplan. Bei uns im Haus wurde es dann nur 16 Grad warm, und auch Internet gab es natürlich nicht.

Wir leben in unserem eigenen Haus und haben einen Kamin und inzwischen einen Stromgenerator. Das ist sehr hilfreich. Die Klassenkameraden meiner Tochter, die in der Nähe wohnen und kein Internet und keinen Strom haben, haben wir zu uns nach Hause eingeladen, damit die Kinder weiterhin online lernen konnten. Die Lehrer sagten manchmal im Scherz zu uns: „Habt ihr zu Hause eine Jugendherberge? Ihr habt immer so viele Kinder da!“

Jetzt bereiten wir uns schon auf den nächsten Winter vor, und ich denke, die Situation wird ähnlich sein.

„Ich schiebe nichts mehr auf“

Ich habe mich durch den Krieg verändert. Ich bin ich fokussierter geworden und schiebe nichts mehr auf, sondern mache alles auf einmal. Denn das nächste Mal gibt es vielleicht keinen Strom oder es wird gefährlich. Ich versuche, nicht in Panik zu geraten, mich nicht zu ärgern. Ich habe einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert und werde jetzt an einer medizinischen Hochschule Krankenpflege studieren. Ich werde wieder Studentin sein – mit 46 Jahren, oh mein Gott!

Das Leben geht weiter, die Hauptsache ist, dass man einen Sinn findet, wofür und für wen man lebt.