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100 Tage AtomausstiegWarum Deutschland nicht abhängiger von Strom-Importen geworden ist

Lesezeit 4 Minuten
ARCHIV - 16.04.2023, Baden-Württemberg, Neckarwestheim: Das Atomkraftwerk Neckarwestheim am Ufer des Neckar.

Seitdem die letzten drei Atomkraftwerke vom Netz gegangen sind, soll die Bundesrepublik viel abhängiger von Strom-Importen geworden sein, so eine Behauptung. Doch die Zahlen zeigen etwas anderes.

Seitdem die letzten Atomkraftwerke vom Netz gegangen sind, soll Deutschland viel abhängiger von Strom-Importen sein. Doch die Zahlen zeigen etwas anderes.

Der historische Schritt liegt am Montag genau 100 Tage zurück: Am 15. April gingen die letzten drei Atomkraftwerke Isar 2 (Bayern), Neckarwestheim 2 (Baden-Württemberg) und Emsland (Niedersachsen) endgültig vom Netz. Seitdem wird von manchen gern das Schreckgespenst an die Wand gemalt, Deutschland könne seinen Strombedarf nicht mehr selbstständig produzieren.

Behauptung: Mit dem Atomausstieg hat sich die Bundesrepublik bei der Stromversorgung größtenteils abhängig vom Ausland gemacht.

Bewertung: Falsch.

Vorwürfe von CSU und AFD an Regierung entsprechen nicht der Wahrheit

Fakten: Die CSU etwa geißelt die Energiepolitik der Bundesregierung und beschuldigt die Ampel, sie mache Deutschland in Energiefragen abhängiger vom Ausland. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel stellte Anfang Juli sogar die These auf: „Satte 82 Prozent unseres Strombedarfs müssen unsere europäischen Nachbarn decken.“ Doch das entspricht nicht annähernd der Wahrheit.

Der Vorwurf entspinnt sich vor allem anhand der Anzahl der Tage, an denen Deutschland Strom importiert. Dass dieser Wert im zweiten Quartal 2023 im Vergleich zum ersten (als die Atomkraftwerke noch am Netz waren) zugenommen hat, soll als Beleg für die angebliche Abhängigkeit herhalten. Doch hat dieser Wert an sich keine Aussagekraft über die tatsächlich importierte Strommenge und deren Anteil an der gesamten Stromerzeugung.

Importe sind oft kein Zeichen von Abhängigkeit, sondern wirtschaftlicher Natur

Die Bundesrepublik handelt seit Jahrzehnten im Rahmen des europäischen Energiemarktes mit anderen EU-Staaten in Sachen Strom. Die allerseits gewollte Zusammenarbeit der Länder soll ermöglichen, Geld und Emissionen einzusparen. Das heißt: Strom wird sowohl importiert als auch exportiert - und damit innerhalb des Staatenbundes dorthin weitergereicht, wo er benötigt wird.

Es gibt Zeiten, an denen für Deutschland die Elektrizität von den Nachbarn billiger ist als die hierzulande produzierte. Vor allem Strom aus erneuerbaren Energien wird immer preiswerter im Vergleich zur konventionellen Variante. Ein möglicher Import ist in diesen Fällen also kein Zeichen für eine Abhängigkeit, sondern eine wirtschaftliche Entscheidung.

Seit 20 Jahren führt Deutschland mehr Strom aus als ein

Seit rund 20 Jahren führt Deutschland Jahr für Jahr mehr Strom aus, als es aus anderen Ländern bekommt. Im Jahr 2022 zum Beispiel wurde ein Exportüberschuss von etwa 26 Terawattstunden (TWh) erzielt.

Seit April 2023 hingegen überwiegt tatsächlich der Import. Und auch die Anzahl der Tage, an denen es einen Import-Überschuss gab, liegt sehr viel höher als im ersten Quartal. Allerdings sagt das nicht unbedingt etwas über die Abhängigkeit nach dem Atomausstieg aus, oder dass Deutschland gar den Großteil seines Stroms aus dem Ausland beziehen müsse.

Importüberschuss im Jahr 2023 liegt gerade einmal bei 0,9 TWh

Den Daten des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) zufolge lieferte Deutschland in diesem Jahr bis zum 21. Juli rund 35,3 Terawattstunden (TWh) Strom an andere europäische Staaten. Andererseits erhielt die Bundesrepublik von ihren Nachbarn 36,2 TWh. Der Import-Überschuss beträgt im Jahr 2023 also bisher gerade einmal rund 0,9 TWh.

Zum Vergleich: Die öffentliche Nettostromerzeugung in Deutschland (also ohne die Eigenversorgung der Industrie) liegt im selben Zeitraum bei rund 247 TWh.

Auch früher importierte Deutschland mehr Strom im Sommer

In den ersten drei Monaten 2023 hat Deutschland der Bundesnetzagentur zufolge mehr Strom an die Nachbarn geliefert als importiert. Im Januar lag der Saldo bei einem Export-Überschuss von 4,0 TWh, im Februar bei 2,8 und im März bei 2,1. Seitdem überwiegt aber der Import: Im April wurden demnach 0,4 TWh mehr Strom ein- als ausgeführt, im Mai 3,5 und im Juni 4,0.

Dass Deutschland im Sommer mehr Strom importiert als exportiert, ist aber kein Alleinstellungsmerkmal für das laufende Jahr. Schon früher, als hierzulande noch ein erheblicher Anteil des Stroms aus Kernenergie erzeugt wurde, zeigte sich in den wärmeren Monaten auch schon ein Import-Überschuss - unter anderem in den Jahren 2010, 2011, 2014, 2019, 2020 und 2021. Allerdings ist auch richtig, dass zum Beispiel 2021 der Saldo nicht dieselbe Höhe erreichte wie 2023.

Im Sommer sinkt wegen der milderen Temperaturen der Bedarf an Strom und zugleich steigt das europaweite Angebot an Solarenergie. Dadurch wird der Preis für Einfuhren in der Regel günstiger.

Das Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme erläutert in seinem Bericht über das erste Halbjahr 2023, dass die weggefallenen Mengen der drei Atomkraftwerke „durch geringeren Verbrauch, verringerte Exporte, gesteigerte Importe sowie den Zubau von Solar- und Windkapazität“ kompensiert worden seien. Bis zu ihrer Abschaltung am 15. April hatten die drei Meiler in diesem Jahr 6,7 TWh produziert. (dpa)