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1108 Seiten belastendes MaterialNun können es alle lesen: Das steht im AfD-Gutachten

Lesezeit 4 Minuten
Ein Redner wirft einen Schatten auf die Bühnenrückwand mit AfD-Schriftzug auf einer Veranstaltung.

Ein Redner wirft einen Schatten auf die Bühnenrückwand mit AfD-Schriftzug auf einer Veranstaltung.

Nun ist das AfD-Gutachten öffentlich: Der Inlandsgeheimdienst hat Hunderte Äußerungen von AfD-Kadern zusammengetragen, um seine Einstufung als „gesichert rechtsextrem“ zu belegen. Eine Frage bleibt: warum hielt er es unter Verschluss?

Das 1108 Seiten lange Gutachten des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) zur AfD ist nun öffentlich, jeder kann es herunterladen. Nicht die Behörde selbst hat es ins Netz gestellt, sondern das Magazin „Cicero” hat ein teils schief eingescanntes Dokument geteilt. Auf jeder Seite steht der Vermerk „VS - Nur für den Dienstgebrauch“.

Die 1108 Seiten des Gutachtens aber kommen zu einem vernichtenden Urteil. Das BfV hat Hunderte Belege dafür gesammelt, dass die AfD von der Spitze abwärts minderheitenfeindlichen und menschenverachtenden Aussagen Raum gibt.

Verstoß gegen die Menschenwürde

„Führende Funktionärinnen und Funktionäre der Partei” verstießen „gegen die Menschenwürde“, argumentiert das BfV und wirft ihnen ein „vorherrschendes ethnisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis“ vor. Konkrete Aussagen, was mit den pauschal abgewerteten Bevölkerungsgruppen geschehen solle, brauche es laut BfV nicht. Schließlich sei es ein Wesensmerkmal von Parteien, gegenüber angenommenen Missständen Abhilfe zu schaffen. Die AfD hat zwar 2021 eine „Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“ verabschiedet, in der sie das Staatsvolk grundgesetzkonform definiert als „Summe aller Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen“. Damit seien aber weder „ausgrenzende oder herabwürdigende Aussagen verhindert worden“ noch habe die AfD die Erklärung „zum Anlass genommen, ihnen systematisch entgegenzutreten“.

Ab Seite 111 geht es zur Sache. „Messerkriminalität ist in unserer Kultur völlig unbekannt“, sagt AfD-Chefin Alice Weidel im Juli 2023 in einem Interview mit dem rechtsextremen Magazin Compact-TV. „Das Phänomen gibt es bei uns nicht.“ Im September 2024 tritt Weidel im Bundestagswahlkampf im brandenburgischen Werder (Havel) auf. Das „Herumgemessere und die Vergewaltigungen“ seien „völlig neu in unserem Land“. Sie schließt: „Das, was wir auf den deutschen Straßen erleben, ist der Dschihad.“ Ebenfalls im Bundestagswahlkampf in Brandenburg sagt Bundesvorstandsmitglied Hannes Gnauck: „Es gehört mehr dazu, Deutscher zu sein, als einfach nur ‘ne Staatsbürgerurkunde in der Hand zu haben.“ Oliver Kirchner, AfD-Fraktionsvorsitzender im Landtag von Sachsen-Anhalt, sagte 2022: „Wer die Veränderung dieses Staatsvolks betreibt, der ist verfassungswidrig. Dieses Staatsvolk hat es nicht verdient, mit Zuwanderung vollgestopft zu werden.“

Ab Seite 256 geht es weiter mit „fremden- und minderheitenfeindlichen Aussagen“. Dennis Hohloch, Weidel-Vertrauter und Bundesvorstandsmitglied, sagte im Bundestagswahlkampf: „Multikulti bedeutet Traditionsverlust, Identitätsverlust, Verlust der Heimat, Mord, Totschlag, Raub und Gruppenvergewaltigungen.“

Muslim- und Islamfeindschaft

Ab Seite 440 werden die muslim- und islamfeindlichen Aussagen und Positionen gesammelt. „Kalifat Deutschland? Wenn wir jetzt nicht handeln, gibt es kein Zurück mehr!“, stand 2024 auf der AfD-Facebookseite. Die Bundestagsabgeordnete Christina Baum schrieb 2021 ebenfalls auf Facebook: „Die bewusste Entscheidung der vorwiegend muslimischen Migranten für Deutschland kann nur eines bedeuten: Wir sollen unterwandert und unterworfen werden.“

Dass sich das Bundesamt für Verfassungsschutz in seinem Gutachten so stark darauf fokussiert, dass das in der AfD vorherrschende „ethnisch-abstammungsmäßige Volksverständnis“ nicht mit der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes vereinbar sei, dürfte auch mit einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster aus dem vergangenen Jahr zu tun haben. Das Gericht bestätigte im Mai 2024 in zweiter Instanz die Einstufung der Partei als Rechtsextremismus-Verdachtsfall.

Das BfV hat offenbar Schlüsse aus einem Gerichtsurteil gezogen

In seiner Urteilsbegründung verwies das Gericht darauf, dass es hinreichende Anhaltspunkte für den Verdacht gebe, „dass die AfD Bestrebungen verfolgt, die mit einer Missachtung der Menschenwürde von Ausländern und Muslimen verbunden sind“. Darüber hinaus lägen „Anhaltspunkte für demokratiefeindliche Bestrebungen vor, wenn auch nicht in der Häufigkeit und Dichte, wie vom Bundesamt (für Verfassungsschutz) angenommen“. Damit hat das OVG zwar noch kein Urteil darüber gefällt, ob auch eine Einstufung der AfD als gesichert rechtsextrem rechtmäßig ist, dem BfV allerdings einen wichtigen Hinweis gegeben, womit eine solche Einstufung am sichersten begründet werden könnte.

Im „Fazit zur Verdichtung zur Gewissheit“ auf Seite 1065 kommen die BfV-Autoren zu dem Schluss, es sei spätestens seit der Bundesvorstandswahl 2024 nicht mehr davon auszugehen, „dass es gemäßigten Kräften in der AfD noch möglich“, sei, die „verfassungsfeindliche Prägung der Gesamtpartei umzukehren“. Ausführlich wird die Annäherung von Parteichefin Weidel an den Thüringer Rechtsextremen Björn Höcke beschrieben.

Beurteilung der AfD für bundesweite Parteienlandschaft wichtig

Zwölf von 14 Bundesvorstandmitgliedern werden im Gutachten mit eigenen, als verfassungsfeindlich eingestuften Äußerungen zitiert. Die beiden anderen unterstützen extreme Kräfte im Wahlkampf und würden daher auch nicht mäßigend wirken.

Ganz am Schluss begründet der Inlandsgeheimdienst, warum er die Neubewertung der AfD öffentlich kommuniziert: Aufgrund der „Bedeutung der AfD für die bundesdeutsche Parteienlandschaft“ sei es für die Öffentlichkeit wichtig, zu erfahren, wie die Behörde die Partei nach mehrjähriger Beobachtung beurteilt.

Dennoch hielt das Amt sein Gutachten unter Verschluss. Allein mit dem Schutz nachrichtendienstlicher Quellen lässt sich das kaum begründen: Die umfangreiche Zitatesammlung stützt sich auf ohnehin öffentlich verfügbare Quellen, auf Äußerungen führender AfD-Politiker und Onlienveröffentlichungen.