Ärztepräsident Klaus Reinhardt erklärt im Interview, mit welchen Anreizen er die Patienten sinnvoll durch das Gesundheitswesen leiten will.
Ärztepräsident Reinhardt„Die Notfallversorgung ist komplett ineffizient“
Klaus Reinhardt ist seit Mitte 2019 Präsident der Bundesärztekammer. Die Organisation vertritt die berufspolitischen Interessen der mehr als 400.000 berufstätigen Ärztinnen und Ärzte auf Bundesebene. Daneben arbeitet der 64‑jährige Allgemeinmediziner weiter in seiner Hausarztpraxis in Bielefeld.
Herr Reinhardt, Sie gelten nicht gerade als Befürworter der Politik von Karl Lauterbach. Haben Sie drei Kreuze gemacht, als das Ende der Ampelkoalition klar war?
Ihre These ist nicht ganz richtig. Ja, wir waren bei einigen Themen doch sehr unterschiedlicher Meinung, etwa bei der Cannabislegalisierung. Aber man muss zugleich festhalten, dass der Minister im Gesundheitsbereich Themen angegangen ist, für die man Mut braucht, etwa die Krankenhausreform. Über die konkreten Inhalte kann man streiten. Ob er bei den Verhandlungen mit den Ländern immer taktisch geschickt vorgegangen ist, ist ebenfalls eine berechtigte Frage. Aber im Grundsatz halte ich diese Reform für dringend erforderlich und es ist gut, dass sie noch beschlossen werden konnte. Auch bei der Digitalisierung und der Nutzung von Gesundheitsdaten für die Forschung hat der Minister einiges erreicht.
Klaus Reinhardt: „Notfallreform lange überfällig“
Durch das Ampel-Aus kommen viele Vorhaben von Lauterbach nicht mehr. Was schmerzt Sie besonders?
Unter anderem ist die Notfallreform lange überfällig. Schon Lauterbachs Vorgänger Jens Spahn hatte sie nicht zu Ende bringen können. Die Notfallversorgung ist komplett ineffizient, sie bindet unnötig viel Personal. Dabei sind die nötigen Reformschritte wie gemeinsame Leitstellen von Kliniken und Praxen längst unstrittig. Aber das ist nur ein Beispiel. Es gibt noch weitere Baustellen, die gleich nach der Wahl im Rahmen von Sofortmaßnahmen angegangen werden müssen.
Was sollte so ein Vorschaltgesetz beinhalten?
Wir benötigen dringend die von der Ampel geplante, aber nun nicht mehr umgesetzte Aufhebung der Budgets für hausärztliche Leistungen sowie perspektivisch auch für Fachärztinnen und Fachärzte. Auch mit Blick auf den Ärztemangel würde das Anreize für eine Niederlassung schaffen. Schließlich sind derzeit rund 5000 Hausarztsitze unbesetzt. Wichtig ist zudem, dass die Krankenkassen künftig die Tarifsteigerungen für die medizinischen Fachangestellten in den Praxen von vorneherein vollständig finanzieren. Und wir brauchen endlich gesetzliche Vorgaben, die den Einstieg von Finanzinvestoren in das Gesundheitswesen regulieren.
Die Debatte, von Lauterbach angeheizt, scheint sich aber beruhigt zu haben. Welche Vorschriften schweben Ihnen vor?
Um es klarzustellen: Wir haben nichts gegen Investitionen in Medizinische Versorgungszentren. Wir haben auch nichts dagegen, dass mit einem Investment angemessene Gewinne gemacht werden. Wer anderes behauptet, redet Unsinn. Aber es darf nicht primär um die Rendite gehen. An erster Stelle muss immer der Versorgungsbedarf der Patientinnen und Patienten stehen, schließlich handelt es sich um Beitragsgelder der Versicherten.
Ruhestandswelle der Babyboomer rollt an
Wie wollen Sie die Gewinne begrenzen?
Nötig sind klare Regeln, die verhindern, dass Rosinenpickerei betrieben wird. Es darf nicht sein, dass nur noch die finanziell lukrativen Operationen angeboten werden, aber die Versicherten niemanden mehr für andere wichtige Diagnostiken und Therapien finden. Für die Versorgung sollte deshalb prinzipiell nur zugelassen werden, wer das gesamte Spektrum seines Faches anbietet.
Was sollte aus Ihrer Sicht noch sehr rasch geregelt werden?
Auch in der Ärzteschaft rollt die Ruhestandswelle der Babyboomer an. Heute ist fast jeder vierte berufstätige Arzt 60 Jahre oder älter. Die Lücken werden wir durch die Jüngeren nicht schließen können. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung der Menschen und somit der medizinische Behandlungsbedarf. Es überlagern sich also zwei Entwicklungen. Dafür müssen wir Lösungen finden. Zum Beispiel wissen wir, dass Ärztinnen und Ärzte im Ruhestand oftmals bereit sind, zumindest in Teilzeit weiterzuarbeiten. Dazu müssen wir Anreize setzen.
Was schlagen Sie vor?
Zum einen muss es größere Spielräume geben, um Kolleginnen und Kollegen im Ruhestandsalter in Teilzeit anzustellen. Denn ältere Ärztinnen und Ärzte wollen nach einem langen Berufsleben in der Regel keine wirtschaftliche Verantwortung für eine eigene Praxis mehr übernehmen. Zusätzlich sind aber auch finanzielle Anreize nötig, entweder eine Befreiung von der Sozialversicherungspflicht oder steuerliche Vorteile. Die von der Union vorgeschlagene „Aktiv-Rente“ mit einem steuerfreien Verdienst von bis zu 2000 Euro für Ältere ist in meinen Augen ein wirklich guter Ansatz.
Über welches Potenzial sprechen wir?
Nach unserer Statistik sind rund 81.000 Ärztinnen und Ärzte zwischen 65 und 74 Jahren. Selbst wenn man unterstellt, dass nur jeder vierte wieder in Vollzeit arbeitet oder jeder zweite auf eine Teilzeitstelle zurückkehrt, hätten wir ein Plus von umgerechnet 20.000 Vollzeitstellen. Das würde erheblich helfen, die Versorgung sicherzustellen
Ärztepräsident: Krankenhausreform wird zum Balanceakt
Die Krankenhausreform ist beschlossene Sache, wird sie auch funktionieren?
Das wird ein Balanceakt. Es ist zwar grundsätzlich richtig, dass Minister Lauterbach auf die Einhaltung einheitlicher Qualitätsvorgaben pocht. Da darf keine Beliebigkeit einziehen. Aber es kann sein, dass gerade in dünn besiedelten Regionen die hohen Ansprüche an die Personalausstattung nicht lupenrein durchzusetzen sind. Andernfalls müssten Kliniken dichtmachen, die wir eigentlich benötigen. Es dürfen keine krankenhausfreien Zonen entstehen. Insgesamt begrüßen wir es, dass die Union mit Blick auf die nächste Legislaturperiode von Nachjustieren bei der Krankenhausreform spricht, aber nicht von Rückabwickeln. Das wäre nicht im Interesse der Ärzteschaft.
In der Krankenversicherung steigen die Beiträge auf neue Rekordhöhen. Auf dem Ärztetag hatte die Ärzteschaft gefordert, die Patienten besser zu steuern, um Geld und Personal effektiver einzusetzen. Wie soll das detailliert funktionieren?
Wir leisten uns als eines der wenigen Länder weltweit ein Gesundheitssystem, in dem maßgeblich diejenigen die Behandlungen steuern, von denen das am wenigsten verlangt werden kann: Die Patientinnen und Patienten. Nach unserem Vorschlag sollte sich der Patient, die Patientin bei einer Hausarztpraxis einschreiben, die dann die Koordinierung der Weiterbehandlung übernimmt, also auch Überweisungen zu Fachärztinnen und Fachärzten. Bei bestimmten chronischen Erkrankungen kann die Koordination der Behandlung auch ein Facharzt oder eine Fachärztin übernehmen.
Organspende: Widerspruchslösung ist überfällig
Soll das freiwillig sein?
Ja, aber nötig sind finanzielle Anreize zum Beispiel über einen günstigeren Krankenkassenbeitrag für diejenigen, die sich in so ein Modell einschreiben. Wer weiterhin den ungesteuerten Zugang zum Gesundheitswesen haben will, zahlt dann auch etwas mehr. Denn er verursacht ja auch höhere Kosten. Denkbar ist auch, dass ein über die Kassen abzurechnender Betrag von zehn oder 20 Euro fällig wird, wenn Patienten den vereinbarten Behandlungspfad verlassen und doch noch einen zweiten Facharzt oder einen weiteren Hausarzt aufsuchen. Wir wissen aus Erhebungen, dass Patienten in bestimmten Regionen im Schnitt 1,5 Hausärzte haben. Also jeder Zweite hatte einen zweiten Hausarzt, die voneinander in der Regel nichts wissen. So etwas können wir uns vor dem Hintergrund der zunehmenden Personalnot und steigender Kosten nicht mehr leisten.
Möglicherweise wird der Bundestag noch kurz vor Ende der Wahlperiode über die Widerspruchslösung bei der Organspende abstimmen. Sollte man so ein brisantes Thema im Hauruck-Verfahren beschließen?
Die Einführung einer Widerspruchslösung wird seit langem diskutiert und ist überfällig. Wer seine Organe nach dem Tod nicht spenden will, dem ist es zuzumuten, einen Widerspruch im Online-Register zu hinterlegen. Es geht schließlich um Leben und Tod für diejenigen, die ein Organ benötigen.
Die FDP hat zuletzt den Herz- und nicht den Hirntod als Todesdefinition ins Spiel gebracht. Wäre das sinnvoll?
Das medizinisch-wissenschaftlich sichere Kriterium ist und bleibt definitiv der irreversible Hirnfunktionsausfall, auch als Hirntod bezeichnet. Es gibt keinen Grund, daran etwas zu ändern.