Tote, Verletzte, Traumata20 Jahre Bundeswehr in Afghanistan – eine Bilanz
Die schneebedeckten Gipfel des Hindukusch sind auf unserer Route bis zu 5500 Meter hoch. Eine Transall C-130 schafft es je nach Beladung auf gut 7000 Meter Flughöhe, aber mir kommt es damals, im Jahr 2003, vor, als touchiere der riesige Vogel mit seinen Tragflächen fast die etwas niedrigeren Berghänge. Aufstehen während des Fluges ist strikt verboten, aber man möchte wenigstens einen kurzen Blick aus den bullaugenartigen Fenstern erhaschen.
Das „taktische Transportflugzeug“ der deutschen Luftwaffe ist unbequem und laut, aber robust. Wir tragen Ohrenschützer. Helm und Schutzweste sind eh Pflicht. Ein mulmiges Gefühl stellt sich ein, als der Pilot auf halber Strecke bekanntgibt, dass im Fall eines feindlichen Angriffs die Bordwaffen eingesetzt würden. Dass das Cockpit und der Laderaum mit beschusssicheren Matten ausgelegt sind, beruhigt nicht wirklich.
Bundeswehr-Airbus fliegt nicht über Taliban-Gebiet
Wir sind – nach einer Zwischenlandung in Termez im Südzipfel Usbekistans – auf dem Weg nach Kabul. Die Provinzstadt ist zu einem wichtigen Drehkreuz für Soldaten geworden, die an der Nato-Mission „International Security Assistance Force“ (Isaf) teilnehmen. Aus Sicherheitsgründen lässt man den weißen Bundeswehr-Airbus nicht über Taliban-Gebiet fliegen.
Alle an Bord außer mir sind Militärs und Leute von Entwicklungshilfe-Organisationen. Ein schwieriger und auch gefährlicher Einsatz steht ihnen bevor. Trotzdem soll alles zivil scheinen wie in einem Ferienflieger. Auf mich wirkt das ziemlich künstlich. Ich erinnere mich genau an die gedankenlose Floskel des Kapitäns kurz vor der Landung: „Wir würden uns freuen, Sie bald mal wieder bei uns begrüßen zu dürfen.“
Beruhigungspille für die Heimatfront
Ein Fauxpas, der vor allem denen sauer aufstößt, die noch neu sind in ihrer Rolle, Deutschlands Sicherheit am Hindukusch zu verteidigen. Das war das Mantra von Verteidigungsminister Peter Struck (SPD), gedacht als Beruhigungspille für die Heimatfront.
Kabul im Dezember 2003. Deutsche Soldaten sind jetzt ziemlich genau zwei Jahre in Afghanistan. Frauen sind zunächst nur ganz vereinzelt im Sanitätsbereich vertreten. Angefangen hatte alles mit Gerhard Schröders willigem Versprechen an George Bush junior am 12. September 2001, am Tag nach den verheerenden Terroranschlägen in New York und Washington: „Ich habe dem Präsidenten die uneingeschränkte – ich betone die uneingeschränkte – Solidarität Deutschlands zugesagt.“
Sinn und Auftrag kaum umrissen
Eine Mehrheit für die Beteiligung an der US-geführten Anti-Terror-Operation „Enduring Freedom“ konnte Schröder in der rot-grünen Koalition nur durch das Druckmittel der Vertrauensfrage erreichen. Die Zustimmung für die internationale Sicherheits-Unterstützungstruppe Isaf war weit weniger strittig. Vorausgegangen war eine internationale Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn.
Zunächst lautete der eher überschaubare Auftrag des UN-Sicherheitsrats, die „vorläufigen Staatsorgane Afghanistans bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und Umgebung zu unterstützen. „Krieg gegen Terror“ hieß Bushs Devise. Doch letztlich waren Sinn und Auftrag des Bundeswehr-Engagements zu keiner Zeit fest umrissen, sondern stets eher vage.
Soldaten im Unklaren
Diese mangelnde Konkretisierung hatte zur Folge, dass, wie zuletzt sogar kleinlaut die Kanzlerin einräumte, die Kriegsziele zu umfangreich gewesen seien und hätten begrenzt werden müssen. Übernommen hat man sich in Berlin unter allen Ressortchefs im Verteidigungsministerium und im Auswärtigen Amt auch mit dem Versuch, „unser Verständnis von Demokratie ohne Rücksicht auf kulturelle Eigenheiten zu exportieren“, kritisiert der Grünen-Politiker Omid Nouripour.
Die Soldaten waren sich lange über ihr Rollenverständnis im Unklaren: Sollten sie Sozialarbeiter in Uniform sein? Schwer bewaffnete Entwicklungshelfer? Das klassische Beispiel sind (sinnvolle) Brunnenbauprojekte in mehreren Provinzen. Als Aktivposten kann die Renovierung und der Neubau von Schulen gelten. Vor 2001 gingen nur eine Million Kinder regelmäßig zur Schule, bloß Jungen, im Lauf der nächsten Jahre waren es acht Millionen, davon 40 Prozent Mädchen.
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Eine Zehnjährige in einer kleinen Landschule 80 Kilometer außerhalb von Kabul erzählt uns, dass sie jeden Morgen um sechs Uhr aufsteht und eine Stunde laufen muss, desgleichen nachmittags zurück. „Ich würde auch um vier Uhr aufstehen, wenn es sein muss“, sagt sie und lächelt schüchtern. Am ehesten erfolgreich war die Bundeswehr im Verein mit den Amerikanern und anderen Nato-Partnern, in den ersten Jahren bei der Eindämmung des Terrors. Aber wie nachhaltig war dieser Kampf?
Das Wiedererstarken der nie ganz ausgeschalteten oder vertriebenen Taliban sagt eigentlich alles. Ein großer Fehler war, dass die Staatengemeinschaft lange regionale Kriegsherren, die Warlords, regelrecht hofiert hat. Die marode Wirtschaft erholte sich kaum. Zyniker befanden schon vor zehn Jahren, das Einzige, was in Afghanistan blühe, sei der Opiumanbau. Statt den Aufbau staatlicher Institutionen voranzutreiben hielt man an alten lokalen Machtstrukturen fest und kooperierte mit den politischen Eliten, die in Korruption und Machtkämpfe verstrickt waren.
Akzeptanz der Angehörigen wurde geringer
Die Akzeptanz ihres Einsatzes wurde bei den Bundeswehr-Angehörigen nach anfänglich überwiegender Zustimmung mit jedem Jahr geringer. In einer Analyse der Böll-Stiftung von 2011 heißt es ernüchternd. „Viele Soldaten können nicht mehr aus Überzeugung gehorchen.“ Kurz vor Weihnachten 2003 im Bundeswehr-Camp „Warehouse“ außerhalb von Kabul an der staubigen Djalalabad Road Richtung Pakistan sind die meisten Soldaten nach meinem Eindruck noch von der Sinnhaftigkeit ihres Einsatzes überzeugt.
Die Deutschen sind zu dieser Zeit beliebt. Menschen am Straßenrand winken Militärfahrzeugen mit dem schwarz-rot-goldenen Emblem freundlich zu. Den jungen Konvoi-Fahrern ist aber bewusst, dass trotzdem überall Gefahren lauern. „Du darfst möglichst nicht anhalten“, sagt der Feldwebel Sascha Lallmann auf dem Befehlsstand seines Transportpanzers „Fuchs“, „das macht dich zum Ziel.“
Zivil unter die Leute
Zu Hause im Saarland hatten er und seine Kameraden geglaubt, sie könnten sich abends in Zivil unter die Leute mischen, deren Schutz sie garantieren sollen. „Naiv, viel zu gefährlich“, sagt er jetzt. Weil es noch hell ist, winke ich ein Taxi heran. Ich steige mit einem unguten Gefühl ein, weil ich nicht sicher sein kann, wo es mich hin bringt – und ob es überhaupt ein Taxi ist.
Es ist bitterkalt. Kabul liegt fast 1800 Meter hoch. Es ist kurz vor dem „Fest des Friedens“, da ist die Militärseelsorge besonders gefragt. Weil man sich bei ihm „einfach auskotzen“ könne, erzählt Pfarrer Jens Hauschild, werde er schon mal als „ESAK“ tituliert, als „Evangelische Sünden-Abwehr-Kanone“. In seiner Flecktarnuniform sieht er aus wie ein ganz normaler Soldat.
Ethische Fragen plagen die Männer
Vereinzelt plagen die Männer im Einsatz auch schon mal ethische Fragen, meist aber geht es um Ehe- und Beziehungskrisen. Nichts belaste im Auslandseinsatz mehr, als wenn zu Hause etwas nicht in Ordnung ist, sagt Oberleutnant Robert Habermann. „Denn die Eingriffsmöglichkeiten sind gleich null.“
Jemand hat sich in einem der Waschräume den Frust von der Seele geschrieben: „Isaf – Ich scheiße auf Frieden.“ An Heiligabend gibt es eine Christmette in der Camp-Kapelle. Der Weihnachtbaum ist mit Cola-Dosen dekoriert. Mit dabei ist auch OP-Schwester Mareike Bauer, die schon lange keiner Kirche mehr angehört. Sie erzählt, wie sie in einem Dorf „einfach losheulen musste“ und dass die überall sichtbaren Kriegsspuren „ein totaler Kulturschock“ für sie waren. Wenn diese sehr spezielle Gemeinde „Stille Nacht“ anstimmt, wird auch sie ihre Pistole und ihre Munitionstasche am Koppel tragen. Vorschrift.
150.000 Bundeswehr-Angehörige beteiligt
An den 20 Jahren Einsatz am Hindukusch waren etwa 150.000 Bundeswehr-Angehörige beteiligt. 59 sind dabei ums Leben gekommen, hunderte wurden verletzt, eine deutlich höhere Zahl seelisch verwundet. Frank Dornseif aus dem hessischen Frankenberg ist einer von ihnen. Der 7. Juni 2003 ist der Tag, „der mein ganzen Leben versaut hat“, erzählt er in seinem Partykeller. Nähe kann er noch immer nicht ertragen, als wir ihn besuchen, fast vier Jahre, nachdem in Kabul ein Selbstmordattentäter im Taxi in einen Bundeswehr-Konvoi hineinfuhr. Vier Kameraden wurden getötet.
„Ich habe überlebt, aber alles andere in mir ist gestorben.“ Man diagnostizierte wie bei hunderten unfreiwilligen Afghanistan-Heimkehrern posttraumatische Belastungsstörungen. Granatsplitter waren trotz kugelsicherer Weste in seinen Körper gelangt. „Mein Gesicht sah aus, als hätte sich eine Kobra gehäutet.“ Seit der „Feststellung der Verwendungsunfähigkeit“ gilt Dornseif als Veteran. Mit 37.Wie gefährlich die Mission am Hindukusch ist, bekomme ich selbst in einer Dezembernacht zu spüren.
Regenexplosionen in der Frühe
Zwei Straßen von meiner „Pension“ entfernt, die vor Jahrzehnten mal eine Villa gewesen sein muss, gibt es gegen drei Uhr früh eine Raketenexplosion, deren Wucht so stark ist, dass im Zimmer nebenan die Fensterscheiben bersten. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Im Bademantel renne ich in Panik trotz der Eiseskälte auf die Straße. Tage später lese ich im „Kabul Weekly“, dass ein Mann die Verantwortung der Taliban für den Anschlag reklamiert und zugleich weitere Aktionen ankündigt. Sie richten sich gegen die Loya Jirga, die große Stammesversammlung, die eine Verfassung beschließen soll, was den Radikalislamisten ein Dorn im Auge ist.
Ich sehe die bärtigen Gestalten mit ihren Turbanen noch vor mir, wie sie in einem Bierzelt über eine friedliche Zukunft ihres Landes palavern. Das Tagungsgelände gleicht einer Festung. Hinter Sandsäcken und Stacheldrahtverhauen sieht man Granatwerfer, weil nach den nächtlichen Raketenangriffen befürchtet wird, Talibankämpfer könnten aus dem Untergrund den fragilen Frieden kaputtbomben.