Aladin El-Mafaalani meint, dass unser Bildungssystem noch immer von falschen Voraussetzungen ausgeht. Er fordert eine nationale Kraftanstrengung.
Bildungsforscher El-Mafaalani„Unsere Grundschulen können nicht so bleiben, wie sie einmal waren“
Vor wenigen Monaten wurde der INSM-Bildungsmonitor veröffentlicht. Dort kam heraus, dass es massive Defizite in Deutsch und Mathematik bei den Viertklässlern gibt, besonders in Nordrhein-Westfalen. Hier sind auch die Klassen bundesweit am größten. Beim IQB-Bildungstrend ging es kürzlich um die Leistungen der Neuntklässler. Auch hier wurde klar, dass ein Drittel der deutschen Schüler nicht die Mindeststandards in Deutsch erreicht.
Über die Bildungsmisere haben wir uns mit dem Soziologen und Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani unterhalten. El-Mafaalani unterrichtet an der Universität Osnabrück mit dem Schwerpunkt Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft, zudem schrieb er mehrere Bücher und war häufig Gast in Talkshows. Im Oktober erhielt der Wissenschaftler das Bundesverdienstkreuz.
Herr El-Mafaalani, ist die Lage im Bildungssystem insgesamt so schlimm, wie es die letzten Erhebungen nahelegen? Oder sind es überhaupt Untersuchungen, die in dieser Form sinnvoll sind?
Aladin El-Mafaalani: Man kann jede Untersuchung kritisieren, beispielsweise aufgrund der Fragestellungen oder der Vorgehensweise. Ich schätze solche Studien jedoch, weil sie eine Langzeitbeobachtung ermöglichen. Dadurch, dass sie in regelmäßigen Abständen wiederholt werden, kann man die grundsätzliche Tendenz kaum in Zweifel ziehen. Die Befunde gehen über alle größeren Analysen hinweg in die gleiche Richtung – und zwar im Großen und Ganzen unabhängig von Bundesland und unabhängig von der Art und Weise der Schulstruktur ab der Sekundarstufe.
Es ist ein allgemeiner Abwärtstrend seit etwa zehn Jahren erkennbar, und zwar schon in der Grundschule. Das ist etwas, was besorgniserregend sein muss. Das hat also nicht nur mit Corona zu tun hat, die Pandemie hat den Trend nur verstärkt.
Aladin El-Mafaalani: „Das Wichtigste ist immer die Grundschule“
Wie passen die Untersuchungsergebnisse mit der Tatsache zusammen, dass immer mehr junge Menschen Abitur machen und auch die Zahl der Studierenden steigt?
Zum einen geht die Schere auseinander. Es gibt beispielsweise einen kleineren Anteil an Kindern und Jugendlichen, die überhaupt keine Probleme durch die Pandemie hatten. Benachteiligte Kinder und Jugendliche werden umso stärker abgehängt. Aber auch diejenigen, die normalerweise nicht als benachteiligt gelten, zeigen eine Verschlechterung. Das ist nicht alleine auf eine kleine Gruppe von Kindern, die in armen und prekären Verhältnissen aufwächst, zu beschränken. Mehr Abiturienten gibt es auch deshalb, weil es in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich eine Bildungsexpansion gegeben hat. Diese hat dazu geführt, dass es auch einfach mehr Plätze an Gymnasien gibt. Dadurch, dass die Anzahl der Kinder insgesamt abgenommen hat, wir aber praktisch keine Gymnasien geschlossen haben, gibt es einfach prozentual mehr Plätze an Gymnasien. Ein Gymnasialbesuch hängt also im Zeitverlauf nicht allein vom Erreichen eines bestimmten Standards ab, sondern auch von der Anzahl verfügbarer Gymnasialplätze.
Welche Bereiche würden Sie als besonders besorgniserregend bezeichnen?
Das Wichtigste ist immer die Grundschule. Denn alles, was in den Grundschulen an Defiziten entsteht, an Lernrückständen, an Problemen, wird in den weiterführenden Schulen nicht mehr umfassend zu kompensieren sein. Grundschulen und auch Kitas sind die zentralen Akteure, wenn es darum geht, grundlegende Verbesserungen herzustellen. Die weiterführenden Schulen haben dann aber die größte Herausforderung, sich noch besser um zugewanderte Jugendliche, die keine deutsche Grundschule besucht haben, zu kümmern.
Grundschulen müssen sich verändern, um heutigen Herausforderungen gerecht zu werden
Was müsste an Grundschulen passieren, damit die Chancengleichheit von Kindern verbessert werden kann? Ist es nicht eher so, dass es im ganzen System auch durch Lehr- und Fachkräftemangel insgesamt Rückschritte gibt?
Zunächst muss man fragen, warum es schlechter wird. Die Antwort darauf findet man nicht in diesen Studien. Dazu muss man tatsächlich ein komplexes Bild aufmachen, nämlich die Tatsache, dass die Herausforderungen für Schulen, und zwar gerade für Grundschulen, im Laufe der letzten 20 Jahre enorm gewachsen sind. Gleichzeitig sind die Grundschulen nicht in einen besseren, sondern eher in einen schwierigeren Zustand geraten.
Was sind das für Herausforderungen?
Zum einen haben sich die Familienformen und das Familienleben verändert. Grundschulen sind, was die Anzahl der Lehrkräfte, die Räumlichkeiten und vieles mehr angeht, traditionell so aufgestellt, dass man sagen kann: Sie kommen aus einer Zeit, wo man sicher sein konnte, dass eine Person – meistens die Mutter – immer ansprechbar und zu Hause ist. Eltern wirkten mit und unterstützten, wenn es nicht gut lief. Aus verschiedenen Gründen geht das nicht mehr so einfach. Erwerbstätigkeit von Müttern und die Pluralisierung von Familienformen sind zentrale Gründe. Die Schule der Vergangenheit setzte eine spezifische Familie systematisch voraus.
Heute muss man umgekehrt fragen: Worauf müssen sich Eltern verlassen können bei der Grundschule, damit sie beide arbeiten gehen können? Früher war es genau andersherum. Diese Diskrepanz ist institutionell noch kaum bearbeitet worden.
Zum zweiten haben sich Armutsstrukturen verfestigt. Armut bei Kindern ist nicht wesentlich angestiegen. Aber gerade in den Einzugsbereichen bestimmter Grundschulen konzentrieren sich Kinder aus armen und prekären Verhältnissen. Wir haben eine ganze Menge Grundschulen, die unter enorm herausfordernden Rahmenbedingungen arbeiten müssen. Hierfür gibt es bislang keinen funktionierenden politischen Lösungsansatz.
Zum Dritten haben wir durch stetige Migration eine derart gestiegene Diversität, dass insbesondere Kitas und Grundschulen allein von der Ausstattung her dies nicht in angemessener Weise aufgreifen und konstruktiv damit arbeiten können.
Daneben hat sich durch die Digitalisierung enorm viel auch bei Kindern und Jugendlichen verändert. Der Umgang mit digitalen Medien muss ebenfalls pädagogisch bearbeitet und begleitet werden.
Die Voraussetzungen, auf die Grundschule treffen, haben sich also in den vergangenen 20 Jahren so dermaßen verändert, dass jeder Gedanke daran, dass sie so bleiben könnten, wie sie einmal waren, völlig hinfällig ist. Das ist noch nicht richtig nachvollzogen worden, im Gegenteil: Wir haben gleichzeitig den größten Lehrkräftemangel an Grundschulen. Das ist ein großes Problem.
Es hat sich ja schon etwas getan. Der Ganztag an Grundschulen ist beispielsweise massiv ausgebaut worden. Viele beklagen aber auch, dass dies eher eine „Aufbewahrung“ der Kinder ist.
Der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz in der Grundschule wird ab 2026 gelten, aber das werden wir nicht deutschlandweit schaffen. Ich hoffe, dass es vielleicht zwei Jahre später soweit sein wird. Wir müssen jetzt ziemlich viel Energie einsetzen, um quantitativ auszubauen. Und leider schafft man es in aller Regel nicht, gleichzeitig die Qualität zu verbessern. Das muss dann im nächsten Schritt erfolgen. Wir sehen in der Tat an Kitas, dass die Qualität nicht in gleichem Maße mithalten konnte mit der Quantität. Dennoch wurde der quantitative Ausbau der Kitas in eindrucksvoller Weise vollzogen.
Wir werden in diesem Jahrzehnt nicht mehr aus dem Krisenmodus herauskommen, da bin ich mir relativ sicher.
Aladin El-Mafaalani: „Sondervermögen Bildung“ würde Signal aussenden
Das ist relativ deprimieren. Ist es vor allem eine finanzielle Frage? Man müsste Lehrkräfte gerade an Grundschulen besser bezahlen, auch Erzieherinnen und Erzieher. Beim weiteren Ausbau des Ganztags geht es beispielweise auch um Räumlichkeiten. Da ist ein schneller Ausbau zumindest in Städten wie in Köln schwierig.
Es ist primär eine finanzielle Frage. Es darf nicht so sein wie beim Digitalpakt, dass man für irgendwelche Projekte Anträge stellen muss. Denn gerade die Schulen, die den größten Herausforderungen gegenüberstehen, haben überhaupt keine Zeit dafür. Man muss die Grundfinanzierung der Schulen verbessern, und das über einen längeren Zeitraum. Daher sage ich, dass wir ein Sondervermögen bräuchten. Man müsste sagen, da ist ein riesiger Topf, an dem beteiligen sich alle möglichen Akteure, und damit können wir sukzessive investieren.
Als Schlagwort wäre der Begriff „Sondervermögen Bildung“ sinnvoll. Er würde ein Signal aussenden, dass mehr Menschen auch ein Interesse daran haben, sich aktiv im Bildungssystem zu beteiligen. Ein Signal, Entsprechendes zu studieren und auch ein Signal an die Lehrkräfte und Sozialpädagoginnen und -pädagogen, die jetzt gerade aktiv sind, dass es besser wird. Denn momentan treten ja immer mehr Menschen aus dem Schuldienst aus. Zudem gibt es einen Mangel in allen pädagogischen Bereichen. Kampagnen allein werden da nicht reichen.
Was braucht es noch an den Grundschulen?
Es ist nicht nur eine finanzielle Frage. Wir müssen außerdem stärker mit ehrenamtlichen und außerschulischen Kräften arbeiten. Denn aufgrund des demografischen Wandels wird man den pädagogischen Fachkräftemangel wahrscheinlich nie ganz in den Griff bekommen. Das heißt, wir müssen die Schule weiter fassen. Auch bei den räumlichen Problemen zumindest in urbanen Gebieten ist Kreativität gefragt und eine Bereitschaft zur Änderung von Organisationsstrukturen.
Aber vor allem ist es eine Finanzierungsfrage. Wir brauchen Signale für eine dauerhafte Verbesserung.