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Als junger Deutscher in Auschwitz„Sehr mutig, dass du gekommen bist“

Lesezeit 13 Minuten
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Der Eingang zum Stammlager Auschwitz I.

  1. In seiner Jugend war für unseren Autor der Holocaust eine Horrorgeschichte aus einer untergegangenen Welt. Interessiert hat ihn das Thema nicht.
  2. Erst später begriff er, wie wichtig das Erinnern ist. Nun besuchte er zum ersten Mal selbst das ehemalige Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
  3. Und erlebt auch Touristen, die Peace-Zeichen zum Selfie vor den Gedenktafeln machen – als stünden sie vorm Eiffelturm.

Owiecim – Ich fahre mit dem Zug. Ich fahre als Deutscher mit dem Zug an den Ort, den die Nazis Auschwitz nannten. Fühlt sich komisch an. Ich sitze am Fenster. Die Strecke führt nah am ehemaligen Lager vorbei. Ich drücke mein Gesicht gegen die Scheibe. Ich sehe nichts. Nur ein leuchtendes „McDonald’s“-Schild.

Komme an. Es ist ungewöhnlich warm für einen Januar in Oświęcim, im Süden von Polen. Trotzdem so kalt, dass einem die Lippen aufplatzen. Es schneit. Ich laufe Schienen entlang. Stillgelegte Schienen. Das Hotel ist nur 500 Meter vom Stammlager entfernt. Im Internet lese ich Bewertungen von deutschen Touristen.

Uwe: „Frühstück und Zimmer waren hervorragend, hätte mir nur mehr deutsche Sender im TV gewünscht.“

Alles zum Thema Angela Merkel

Anne-Sophie: „Ein ganz wenig schade das es kein Wellnessbereich gibt.“

Cornelia: „Klasse fand ich die Duschhaube ;)“

Ich suche bei Google den Namen meines Großvaters. „Walter Lemm“. Finde ein Interview mit der Lokalzeitung von 2013. Mein Großvater erzählt von Weihnachten im Lazarett. 1945. Drei Wochen vor Kriegsende getroffen, der Schuss ging durch beide Oberschenkel. Die Geschichten meines Großvaters begannen immer erst nach dem Krieg. Nach den Nazis. Ich suche „Walter Lemm Wehrmacht“. Nichts. Ich tippe seinen Namen in die Suchleiste eines NS-Archivs. Keine Treffer. War mein Großvater in der Hitlerjugend? Ich habe ihn nie gefragt. Er ist seit fast zwei Jahren tot.

Tag 1: Kein Ende in Sicht

Ich bin hierhergekommen, nach Auschwitz, weil ich besorgt bin. Besorgt über Zahlen, die ich lese. Besorgt über meine Generation. 40 Prozent der Deutschen in der Altersgruppe von 18 bis 34 geben an, „wenig“ bis „gar nichts“ über den Holocaust zu wissen.

Ich bin 23 Jahre alt.

Auch mich hat der Holocaust lange nicht interessiert. Ich habe im Geschichtsunterricht die Bilder gesehen. Ich habe auf Klassenfahrt das Anne-Frank-Haus besucht. Ich saß in der Schul-Aula, als ein Überlebender erzählte.

Habe ich alles mitbekommen. Aber ich habe mit zwölf, mit 14, mit 16, nicht verstanden, was das mit meinem Leben zu tun haben soll. Die Nazis, das waren ja nicht wir. Wir waren die Jungs, die auf dem Schulhof Kollegah hörten, der rappte: „Ich verkauf' Rauschgift in Massen an blasse Frauen, die ausseh’n wie Auschwitzinsassen.“ Fanden wir krass.

Der Holocaust war für uns eine Horrorgeschichte aus einer untergegangenen Welt. Erst mit Anfang 20, während des Studiums, habe ich verstanden, dass diese Geschichte nicht einfach zu Ende ist. Weil ich Glück und Zeit hatte, mich noch einmal mit ihr beschäftigen zu können.

Nicht jeder hat das.

Arbeiten am Todestor. Ein Kran hängt über dem Eingang zum Lager Auschwitz-Birkenau. Bauarbeiter stehen auf dem Dach. Sie bereiten die Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Befreiung vor. 27. Januar 1945. Ein weißes Zelt wird über das Portal gebaut werden, durch das die fensterlosen Waggons mit den Deportierten fuhren. Hinter dem die Rampe liegt, auf der die SS-Leute selektierten. Männer rechts, Frauen, Kinder links. Wer zu schwach für die Arbeit war, musste sofort zur Gaskammer. 900.000 Menschen wurden so direkt nach der Ankunft getötet.

Für das Stammlager braucht man ein Ticket, Birkenau kann man einfach so betreten. Besucher drängen durch einen Nebeneingang, drängen in die Baracken aus Holz, die wie Pferdeställe aussehen. 30 Meter lang, acht bis zehn Meter breit. Mehr als 1500 Gefangene wurden in jede davon gepfercht. Die Wände nicht einmal 15 Zentimeter dick. Ich trage Winterjacke. Ich friere.

Kaum Deutsche da. Eine amerikanische Eishockey-Mannschaft. Eine britische Reisegruppe. Sie machen Handyfotos von den Gedenktafeln, die zeigen, wie Häftlinge zu den Gaskammern getrieben wurden. Ein Vater und zwei Söhne posieren. Einer zeigt ein Peace-Zeichen. Als stünde er vor dem Eiffelturm. Im vergangenen Jahr kamen 2,3 Millionen Menschen nach Auschwitz. Erneuter Besucherrekord. Vor zehn Jahren waren es noch knapp halb so viele. Die meisten von ihnen sind Polen, danach kommen Briten, US-Amerikaner, Italiener. Die Deutschen stehen an fünfter Stelle in der Besucherstatistik. Angela Merkel war kürzlich hier, im Dezember, zum ersten Mal als Kanzlerin. Sie hinterließ einen Brief. „Unsere Verantwortung ist und bleibt es, diesen Ort der Nachwelt zu erhalten: (...) als immerwährende Mahnung, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen.“

Hanna Arendt schrieb einmal, vor Antisemitismus sei man nur auf dem Mond sicher. In den vergangenen Jahren wirkte es so, als wenn Deutschland sich nur knapp dahinter sähe. Toll, wie man aus der Vergangenheit gelernt hat, wie man gemeinschaftlich erinnert. Dann kamen Angriffe auf jüdische Geschäfte, kamen Nachrichten von Übergriffen auf Juden. Kam der Anschlag von Halle.

Unsere Gedenkkultur ist nicht so selbstverständlich, wie wir manchmal glauben. Sie ist jung. Nach dem Krieg versuchte man es noch lange mit Verdrängung. Amnestiegesetze. Es ist verführerisch, sich nicht zu stellen, so zu tun, als wären die Täter nicht mehr unter einem, als wären es nicht Vater, Nachbar, Lehrer, Freunde gewesen. Der Bruch kam mit der 68er-Bewegung. Das kollektive Erinnern erst Ende des vergangenen Jahrhunderts. Fast zwei Drittel der deutschen NS-Gedenkstättenn sind in den 90er Jahren oder später eröffnet worden. 1996 wurde der 27. Januar offiziell zum Gedenktag. Im selben Jahr fiel auch das Wort „Erinnerungskultur“ zum ersten Mal im Bundestag. Vorher sprach man noch von „Vergangenheitsbewältigung“. Als könnte man die systematische Ermordung von sechs Millionen Menschen bewältigen. Als könnte man damit „fertig werden“.

In Birkenau laufen die meisten Besucher nur die Schienen entlang, bis zum Ende, an dem sich früher zwei Krematorien befanden und heute Gedenktafeln in verschiedenen Sprachen: „Dieser Ort sei allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit. Hier ermordeten die Nazis über anderthalb Millionen Männer, Frauen und Kinder. Die meisten waren Juden aus verschiedenen Ländern Europas.“

Dann laufen sie wieder zurück zum Ausgang. Man ist in Birkenau schnell allein. Leere Wege, Zeit wird zu Sirup. Alles zäh und trüb. Bin ich erst eine Stunde hier oder schon drei? Und es ist still, so still, dass man den Schnee schmelzen hören kann. Schwarze Gedenksteine auf Wiesen. Hier liegt die Asche der Toten, hier wurden die Leichen, die nicht mehr in die Öfen passten, auf Scheiterhaufen verbrannt. Noch schlimmer als die Baracken zu sehen, ist das Gefühl, immer weiter laufen zu können. Mit jedem Schritt mehr wird das Ausmaß klarer, mit jedem Schritt mehr wünscht man sich, dass es endlich aufhört.

Es sind sehr viele Schritte bis zum Rand des Geländes.

Tag 2: Symbolkraft

Anna ist eine kleine Frau mit sanften Gesichtszügen und einer großen Brille. Ich habe mich für eine sechsstündige Führung angemeldet, mehr ist als Alleinreisender nicht möglich. Anna ist mein Guide. Außer mir hat an diesem Januarmorgen kein anderer Besucher die Tour auf Deutsch gebucht. Viele Deutsche wählen absichtlich das Programm auf Englisch, weil sie sich schämen, sagt Anna. Sie fragt, warum ich hier bin, ich erkläre es ihr, sage aber nicht, dass ich Journalist bin. Deswegen ist ihr Name in diesem Text geändert. Ich will, dass sie mich behandelt wie einen normalen Besucher. Sie sagt: „Sehr mutig, dass du gekommen bist.“

Anna rollt das „R“ so rau, dass man denkt, ein Motor startet und spricht das „Ch“ so weich, dass man sich hineinfallen lassen will, dass selbst die schlimmsten Wörter harmlos klingen. Sie sagt nicht Leichen, sie sagt „Laischen“. Wir laufen unter dem „Arbeit macht frei“-Schild her. Hier, im Stammlager, nahm Auschwitz seinen Anfang, ehe es sich mit seinen Erweiterungen, mit Birkenau, Monowitz und 50 weiteren Außenlagern auf 40 Quadratkilometern ausbreitete.

Die geziegelten Gebäude, die Blöcke, wirken nicht unheimlich, eher wie eine zu groß geratene Reihenhaussiedlung. Im Innern warten die Verbrechen.

Block 4: Zyklon-B-Dosen.

Block 5: Koffer, Kinderschuhe, Haare. Zwei Tonnen Haare.

Block 11: Die Todeszellen.

Es fehlen Momente zum Innehalten. Alles eng, alles zu voll. Andere Guides hasten mit 20 Schülern durch die Ausstellung. „Das ist meine Gruppe“, sagt Anna, zeigt auf mich. Eine Kollegin sagt auf Deutsch: „Du bist ein Glückspilz.“

Anna, die in Oświęcim geboren und aufgewachsen ist, wird später sagen, sie spricht nicht mehr gern Deutsch. Weil sie die Sprache mit jedem Wort an die SS-Dokumente erinnert. Sie wird auch sagen, dass sie es nicht mehr mag, nach Deutschland zu reisen. Weil sie sich bei jedem alten Menschen dort frage: Was hast du vor 75 Jahren gemacht?

Anna hat Notizen auf die Innenseite ihrer Lider geschrieben, zumindest glaubt man das. Ein Blinzeln vor jedem Fakt. Zwölf Kilometer Stacheldrahtzaun allein in Birkenau. 228674 Personen, die allein im Mai 1944 an der Rampe ankamen. 8696 Personen, die pro Vergasung in eine Kammer passten.

Nur ihre eigenen Zahlen lässt Anna ungenau. Sie sagt nicht, wann sie geboren ist, sie sagt: „Kurz nach dem Krieg.“ Sie sagt nicht, wie lang sie den Job schon macht, sie sagt: „sehr lang“. Und: „Vielleicht zu lang.“

Der Beruf macht müde, sagt sie. Früher waren alle Guides noch fest angestellt bei der Gedenkstätte, es gab Sonderurlaub wegen der Belastung, die der Ort mit sich bringt. Mittlerweile sind sie Freiberufler, müssen ihre Verfügbarkeiten selbst angeben. Anna betreut oft deutsche Schulklassen. Manchmal, sagt sie, wenn die Jugendlichen noch auf dem Gelände diskutieren, ob sie nun Pizza oder Pirogge essen wollen, kommen die Zweifel. Manche von Annas Kollegen sagen, man solle nicht so streng mit den Jugendlichen sein. Wer will schon vor seiner Klasse weinen? Das sind doch nur Schutzmechanismen. Anna sagt, es sei toll, dass so viele Schüler kommen. Aber es sei auch schwer, weil so viele Schüler kommen.

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Seit gut zwei Jahren werden Gedenkstättenfahrten für Jugendliche in Deutschland besonders gefördert. In NRW bezuschusst die Schulfahrten das Land seit 2018, die außerschulischen der Bund seit 2019. Seitdem ist auch der Andrang größer. In NRW hat man die Mittel immer wieder verdoppelt, von einer viertel, auf eine halbe, auf eine ganze Million.

Die meisten Schulen fahren nach Auschwitz. Bei 105 der 274 im laufenden Schuljahr geförderten Fahrten lag das Ziel in Polen. Von den Gedenkstättenfahrten, die der Bund im vergangenen Jahr förderte, gingen 85 Prozent nach Auschwitz.

Auschwitz, das größte Vernichtungslager der Nazis, ist zum Symbol für den Holocaust geworden. Manche Experten finden es schade, dass andere Gedenkstätten vernachlässigt werden. Andere sagen: Ohne Sinnbild kein Gedenken.

In Auschwitz muss man das Grauen nicht erspüren, sich nicht vorstellen. Man sieht es. Die Wachtürme. Die Galgen. Die Schwarze Wand. Geschichte wird erfahrbar. Hier stellen sich Jugendliche selbst die Fragen, die Lehrer nicht beantworten können. „Was hat der Holocaust mit mir zu tun?“ ist so eine.Ich denke an Kaan, einen Jungen aus Köln, 18 Jahre alt. Ich habe ihn vor meiner Reise getroffen, er war im Juni mit seinem Gymnasium hier. Ich habe ihn gefragt, was der Besuch für ihn bedeutete. Kaan hat gesagt: „Ich habe eine Verantwortung, niemals zuzulassen, dass so etwas wieder passiert.“ In das Heft, das er und seine Mitschüler angefertigt haben, hat er einen Satz von George Santayana geschrieben: „Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“

Ich frage Anna, ob sie denkt, dass junge Menschen das hier überhaupt noch begreifen können. Anna, die Zahlenfrau, sagt, ich solle versuchen, mich an Zahlen zu erinnern. Ich versuche an jene zu denken, die ich gestern Abend recherchiert habe.

41 Prozent der deutschen Schüler wissen nicht, was Auschwitz-Birkenau war. Fast die Hälfte der Deutschen findet, Juden redeten zu viel über den Massenmord der Nazis. 81 Prozent der Deutschen wollen die Geschichte des Holocausts hinter sich lassen.

So genau fällt mir das in diesem Moment nicht mehr ein. Anna, die Zahlenfrau, sagt, Zahlen beschreiben Ausmaße, keine Schicksale. An Schicksale erinnert man sich. An Zahlen selten.

Tag 3: Mehr als Vergangenheit

Wer in Leszek Szusters Büro will, der muss einmal durch die Internationale Jugendbegegnungsstätte, vorbei an Seminarräumen, Kantine, Wintergarten, den Pädagogen und ihren Bücherstapeln auf den Schreibtischen. Szuster, ein Mann mit tiefblauen Augen, ist Leiter der Einrichtung, die wie ein Adapter in der Mitte von Lager und der Stadt Oświęcim liegt. Bis zu 180 Jugendgruppen kommen im Jahr. Für mindestens vier Tage.

Reicht das aus?

Szuster schaut aus dem Fenster. „Eine große Herausforderung für uns ist, dass die Gespräche mit den Überlebenden nicht ersetzbar sind.“ Seit es die IJBS gibt, seit 1986, arbeitet die Einrichtung mit Auschwitz-Überlebenden zusammen, die ihre Schicksale mit den jungen Leuten teilten. Fast jede Gruppe, die früher am Programm teilnahm, hatte so ein Zeitzeugen-Gespräch. Heute ist das nur noch ab und zu möglich. Die Zeitzeugen werden weniger. Überall. Die Holocaust-Überlebenden, genau wie Großeltern, die erzählen. Und ohne Zeitzeugen wird der Abstand größer.Deswegen werden die Gedenkstätten der Schlüssel für die pädagogische Vermittlung werden, glauben Experten. Deswegen bezuschusst die Politik, deswegen fordern ihre Vertreter regelmäßig einen verpflichtenden KZ-Besuch für alle Schüler. Dafür bräuchte es vor allem mehr Geld. Aktuell machen gerade einmal 20 Prozent so einen Ausflug. Funktioniert Gedenken nach Lehrplan überhaupt?

Szuster sagt, er nehme auch gern die Desinteressierten in seinem Haus auf. Auch sie könnten sich der Unmittelbarkeit von Tod an diesem Ort nicht entziehen. Auch sie verstehen, dass Auschwitz mehr ist als Vergangenheit. „Der meistgeschriebene Satz in unserem Gästebuch ist: »Ich fahre anders, als ich gekommen bin.« Das klingt ein bisschen pathetisch, aber junge Leute sind wenig pathetisch. Wenn sie so schreiben, dann kommt es vom Herzen.“Max ist spät dran, er löffelt seine Suppe schnell, spricht noch schneller. Gleich kommt eine Klasse aus Berlin, er muss ihren Seminarraum noch vorbereiten. Max, 18, das Gesicht jung, die Stimme tief, ist einer von drei Freiwilligen in der IJBS. Er ist hier, sagt er, weil er nach der Fachhochschulreife keinen anderen Plan hatte.

Sein Vater schon leistete Freiwilligendienst in Oświęcim. Max, der vorher noch nie eine KZ-Gedenkstätte besucht hatte, bewarb sich. Wurde genommen. Fuhr her, um sich das alles mal anzuschauen.

„Während der Schulzeit bekommt man irgendwie nicht das Gefühl: Das berührt mich jetzt“, sagt Max. Nach seinem ersten Besuch im Lager, sagt er, fühlte er sich, als ob er nicht mehr denken könnte.

Ein schwarzer Bus fährt vor, spuckt 30 Teenager auf den Vorplatz. Max muss los.

Später am Nachmittag brechen sie auf zur Stadtführung. Max, grüne Mappe unterm Arm, gibt den Weg vor. Er hat historische Bilder in Klarsichtfolie dabei. Er sagt: „Vielleicht wisst ihr das nicht, aber vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Oświęcim 8000 Juden.“ Er zeigt Plätze, an denen mal etwas war und heute nichts mehr ist. Der Platz, auf dem das Rathaus stand. Der Platz, auf dem die Große Synagoge stand. Zerstört von den Nazis. Er erzählt, dass 2000 der letzte in Oświęcim lebende Jude gestorben ist. Er bleibt vor einem Graffiti stehen, Papst Johannes Paul II. mit einer Sprechblase auf Polnisch. Max kann kein Polnisch. Ein Lehrer bittet eine Schülerin, vorzulesen, er glaubt, sie könne übersetzen. Sie sagt: „Ich bin Russin“. Max lächelt.

Am Abend verabschieden wir uns. Ich denke nach, wie ich diesen Ort nur beschreiben soll. Kenne keine Adjektive, die das könnten. Später werde ich meine Mutter nach meinem Großvater fragen. Er war Teil des Volkssturms, eingezogen mit 16, sagt sie. In der Hitlerjugend war er nicht. Das ist gut.Ein Trost kann es nicht sein.