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Kommentar

„Deutschland würde sich erpressbar machen“
Die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten ist ein Irrweg

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Lesezeit 5 Minuten
Ein Flugzeug startet am Flughafen Hannover, fotografiert durch Stacheldraht am Flughafenzaun. (Symbolbild)

Ein Flugzeug startet am Flughafen Hannover, fotografiert durch Stacheldraht am Flughafenzaun (Symbolbild)

Michael Bertrams, Ex-Präsident des NRW-Verfassungsgerichtshofs, hat eine klare Position zur Auslagerung von Verfahren außerhalb der EU.

Wie kaum ein anderes Problem bewegt die anhaltende Migration nach Europa seit Jahren die Menschen. Das wiederholte Versprechen der Politik, die Einwanderungszahlen signifikant zu reduzieren, ist bislang nicht eingelöst worden. Der Migrationsdruck auf Deutschland ist nach wie vor hoch. So wurden allein im vergangenen Jahr rund 330.000 Asyl-Erstanträge gestellt.

Bund und Länder haben deshalb bereits am 6. November 2023 auf einer gemeinsamen Konferenz des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten und -präsidentinnen der Länder (MPK) die Frage erörtert, ob zur Senkung der Migrationszahlen eine Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union in Betracht kommt. Zu diesem Prüfauftrag hat Innenministerin Nancy Faeser (SPD) im März mit 23 nationalen und internationalen Fachleuten die Möglichkeiten einer Abwicklung von Asylverfahren in Drittstaaten erörtert.

Bis Ende 2024 soll der Bund Lösungsmodelle vorlegen

Das Ergebnis hat die Ministerin wie folgt zusammengefasst: „Die Sachverständigen sehen die Durchführung von Asylverfahren in Drittstaaten wegen der rechtlichen und praktischen Hürden sowie der Kosten, die die Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland wohl um ein Vielfaches übersteigen würden, überwiegend kritisch. Außerdem können mögliche Abschreckungseffekte, die zu weniger irregulärer Migration führen könnten, nicht sicher vorhergesagt werden.“

In Kenntnis dieser Bewertung hat die MPK am 20. Juni erneut darüber beraten, ob eine Verlagerung von Asylverfahren in Drittstaaten möglich ist. Das Ergebnis dieser erneuten Beratung hat Kanzler Olaf Scholz (SPD) am Abend des 20. Juni dahingehend zusammengefasst, dass die Idee einer weiteren intensiven Prüfung bedürfe. Es sei deshalb „fest vereinbart“ worden, diesen Prozess fortzuführen und vom Bund bis Ende des Jahres konkrete Lösungsmodelle zu erwarten.

Im Hintergrund steht offenbar die Sorge vor Wahlerfolgen der AfD

Dieses Übereinkommen ist in Anbetracht der seit März vorliegenden Sachverständigen-Bewertung nicht nachvollziehbar. Es soll offenbar – wie die Forderung nach einer sofortigen Ausweisung islamistischer Straftäter – den Eindruck vermitteln, die Politik arbeite unermüdlich an der Lösung des Migrationsproblems. Im Hintergrund steht offenbar, dass mit Blick auf dieses ungelöste Problem bei der Wahl zum EU-Parlament am 9. Juni viele Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme der AfD gegeben haben und dass ein ähnliches Wahlverhalten auch bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im September befürchtet wird.

Doch auch eine noch so eingehende erneute Prüfung von Asylverfahren außerhalb der EU wird nichts daran ändern, dass es an einer rechtlichen Grundvoraussetzung für alle denkbaren Lösungsmodelle fehlt: an sicheren Drittstaaten nämlich, die in der Lage wären, die vielen Tausend jährlich bei uns anfallenden Asylverfahren unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durchzuführen.

Abkommen mit Drittstaaten werden oftmals gebrochen

Für kooperationsbereite Drittstaaten stünden deren eigene finanzielle Interessen im Vordergrund und weniger die strikte Beachtung flüchtlings- und menschenrechtlicher Schutznormen. Jedenfalls hinge das Ob und Wie einer Einhaltung der maßgeblichen Rechtsnormen allein vom politischen Willen der Drittstaaten ab. Die Wahrung flüchtlings- und menschenrechtlicher Schutzstandards könnte mit anderen Worten nicht von Deutschland sichergestellt werden.

Das würde auch für die konkrete Durchführung der Asylverfahren und den Umgang mit den Geflüchteten vor und nach einer Anerkennung oder Ablehnung gelten. All dies ließe sich zwar in Vereinbarungen regeln. Erfahrungsgemäß werden politische Abkommen mit Drittstaaten jedoch oftmals nur mangelhaft eingehalten oder gar gebrochen. Erinnert sei an das 2016 von der EU geschlossene Flüchtlingsabkommen mit der Türkei.

Die politischen Verhältnisse in Ruanda sind nicht so stabil wie bei uns

Alle genannten Bedenken gelten auch für das von der Politik immer wieder angesprochene „Ruanda-Modell“. Dazu hat der Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf), Eckhard Sommer, zu Recht die Fragen aufgeworfen, wie man denn – „ganz praktisch betrachtet“ – Tausende Menschen gegen ihren Willen nach Ruanda bringen wolle, und wie ein so kleiner Drittstaat auf Dauer in der Lage sein könne, Tausende von Menschen aufzunehmen und angemessen unterzubringen, ohne sich auf Dauer selbst in seiner Existenz zu gefährden.

Abgesehen davon ist auch mit Blick auf Ruanda nicht ersichtlich, wie und von wem dort jährlich Tausende Asylverfahren im Einklang mit EU-Recht durchgeführt werden könnten. „Etwa von deutschen Beamten?“, fragt Sommer. Zu bedenken bleibt überdies, dass die politischen Verhältnisse in Ruanda – auch mit Blick auf den bis heute nachwirkenden Genozid von 1994 – nicht so stabil sind wie bei uns. In Betracht zu ziehen sind die möglichen Auswirkungen eines etwaigen Regierungswechsels oder aufkommende Widerstände in der Bevölkerung gegen die Übernahme von Asylverfahren und die Aufnahme von Flüchtlingen.

Asylverfahren in Ruanda: Deutschland würde sich erpressbar machen

Deutschland könnte an derartigen Entwicklungen nichts ändern, würde sich also in die Abhängigkeit Ruandas begeben und erpressbar machen. So wie sich die EU im Rahmen des erwähnten EU-Türkei-Abkommens in die Abhängigkeit des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan begeben und von diesem erpressbar gemacht hat.

Hinzuweisen bleibt schließlich auch darauf, dass die betroffenen Migrantinnen und Migranten gegen ihren Transfer nach Ruanda in Deutschland klagen könnten. Deutsche Gerichte müssten dann im Einzelfall prüfen, ob die Lebensumstände und rechtlichen Gegebenheiten im Drittstaat Ruanda den Anforderungen des internationalen Flüchtlingsrechts entsprechen oder den Betreffenden individuell in seinen Rechten verletzen. Das eigentliche Asylverfahren bliebe daneben bestehen. Folglich käme es zu einem Mehr an zeitaufwändigen Verfahren.

Aus alledem ergibt sich: Die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten ist ein Irrweg, der nicht beschritten werden sollte.