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Kommentar

Kommentar zur Europawahl
Diese Wahl muss ein Weckruf sein

Ein Kommentar von
Lesezeit 3 Minuten
Ein mit dem Schriftzug "AFD!"  beschmiertes Wahlplakat der SPD mit einem Foto von Bundeskanzler Scholz, aufgenommen am Tag nach der Europawahl. Die Europawahl begann am 6. Juni und in Deutschland wurde am 9. Juni gewählt. In Sachsen fanden Kommunalwahlen und zeitgleich die Europawahl statt.

Gerade in Ostdeutschland konnte die Ampel wenig überzeugen. Fast zwei Millionen Menschen wählten dort AfD.

Alle Regierungsparteien haben in der Europawahl an Rückhalt in der Bevölkerung verloren. Der lahmenden Ampelregierung fehlt es dennoch weiterhin an Problembewusstsein.

Ist Europa wirklich ein gemeinsames Herzensprojekt der Europäer? Schaut man auf die Wahl von Sonntag, muss man große Zweifel daran haben. Originär europäische Themen waren – von Allgemeinplätzen abgesehen – im Wahlkampf kaum präsent, nach Schließung der Wahllokale spielten sie gar keine Rolle mehr. Nicht nur in Deutschland, auch in vielen anderen Ländern – in Frankreich mit besonders weitreichenden Folgen – war die Europawahl zuallererst eine Abstimmung über nationale Innenpolitik.

In Deutschland bekam das wenig überraschend vor allem die Ampel zu spüren. Das Berliner Bündnis aus SPD, Grünen und FDP wird von Bundeskanzler Olaf Scholz geführt – womit schon eines der zentralen Defizite benannt ist. Denn zwischen dem, was Scholz unter Führung versteht und dem, was die Deutschen, ob Ampel-Wähler oder nicht, erwarten, klafft ein riesiges Loch. Und so gelingt es dem Bundeskanzler trotz aller (inzwischen auch mal) markigen Worte nicht, den Dauerstreit in seiner Regierung zu beenden und die sich auftürmenden Probleme handwerklich sauber und nachhaltig zu lösen.

Christian  Hümmeler

Christian Hümmeler

Christian Hümmeler (55) ist seit 1. November 2023 kommissarischer Chefredakteur des Kölner Stadt-Anzeiger. Der Chefredaktion gehörte er schon seit 2017 an, zuletzt war er seit April 2022 geschäftsführ...

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Ohne Zweifel ist jedes einzelne dieser Probleme höchst anspruchsvoll. Darüber könnte man sogar reden, man könnte die Menschen mitnehmen, vielleicht sogar überzeugen. Stattdessen verbeißen sich die Koalitionäre immer wieder ineinander, die Abfolge von Streit, gegenseitiger Schuldzuweisung, Krisengipfel wiederholt sich in Dauerschleife und prägt das desolate Bild dieser Regierung.

Zwei Millionen Ostdeutsche ließen sich von AfD-Skandalen nicht abschrecken

Nun sind die miserable Performance der Ampel und ihre Defizite vor allem in Sachen Führung, Handwerk und Kommunikation nicht allein verantwortlich für das Erstarken der AfD. Es gibt einen gefährlich weit verbreiteten Frust über das angebliche Versagen der Politik auf allen Ebenen, den die AfD ununterbrochen befeuert, inklusive persönlicher Diffamierungen.

Und es gibt wieder eine Grenze mitten in Deutschland, diesmal angesichts der Wahlergebnisse: Der Osten ist, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, komplett blau. Überträgt man die Parteifarben auf die Landkarte, sieht man Deutschland vor 1990. Fast zwei Millionen Wählerinnen und Wähler in den ostdeutschen Ländern haben sich weder von den Skandalen der Rechtspopulisten noch vom teilweise höchst unappetitlichen Personal, schon gar nicht von der Nähe zum völkischen Gedankengut abschrecken lassen.

Zentrales Anliegen muss sein, die Spaltung des Landes zu überwinden

Für jede Bundesregierung – sei es für die jetzige, wenn sie denn die Kraft dazu besäße, oder für eine zukünftige, dann mutmaßlich eher unter Führung der CDU – muss es ein zentrales Anliegen sein, diese erneute Spaltung des Landes zu überwinden. Der Bedarf nach Führung, nach Klarheit, nach Lösungen wird also nicht kleiner.

Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen bei den Jungwählerinnen und -wählern. Wenn der rasante Wechsel in der Zuneigung von den Grünen hin zu CDU und AfD wirklich nur mit Tiktok-Kompetenz zu erklären wäre, wäre der Lösungsansatz vergleichsweise einfach. Und ein Ergebnis wie in Köln, wo Volt und AfD mit jeweils rund sieben Prozent fast gleichauf liegen (für Volt ein Riesenerfolg, für die AfD seit Sonntag ein eher schlechtes Ergebnis), ist mutmaßlich eine Ausnahmeerscheinung in einer Großstadt mit vielen Jungwählern.

Umso wichtiger wird es künftig, die Handlungsmuster der AfD besser zu verstehen – nicht, um sie zu kopieren, sondern um sie wirkungsvoller zu bekämpfen. Dazu gehören vor allem klare Entscheidungen und klare Kommunikation, auch und gerade bei den Themen, bei denen es wehtut: Migration, Sicherheit nach innen wie nach außen, Klima, Jobs.

Diese Wahl muss ein Weckruf sein. Für die lahmende Ampel ist sie vielleicht die letzte Chance, noch einmal durchzustarten – doch das müsste ja nachhaltig sein. Angesichts der Vielzahl von Zumutungen, die sich schon beim Bundeshaushalt 2025 ergeben, scheint ein erfolgreicher Neubeginn der einst als Zukunftsbündnis angetretenen Ampel allerdings fast unmöglich. Zudem ist echtes Problembewusstsein trotz der fatalen Wahlergebnisse bisher nicht zu erkennen, stattdessen greifen die üblichen Mechanismen, nach denen immer die anderen schuld sind. Es bleibt schwierig, für Deutschland wie für Europa.