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Attila Hildmanns tiefer FallVom TV-Veganer zum einsamen Hassprediger

Lesezeit 9 Minuten
Hildmann Imago

Attila Hildmann im Mai 2020

Köln – Es ist Sonntag, 15 Uhr, und Attila Hildmann hetzt mal wieder gegen Juden. Die Pandemie sei eine Lüge, Impfungen seien Gift, Juden wollten die Menschheit ermorden. „Rassenschändung“, „Illuminaten-Sekte“, „Judengift“, „Untermenschen“: Im Minutentakt spuckt Hildmann sich schier endlos wiederholend antisemitische Schlagwörter in seinen Telegram-Kanal, schickt Sprachnachrichten, Bilder, Videos. Sein Hass, seine Angst, so seine Hoffnung, soll sich verbreiten. Seine Anhänger sollen sich verweigern, sich wehren, sich bewaffnen. Es sind einige der vorerst letzten Aufrufe, die Hildmann an mehr als 100.000 Follower sendet. Nur zwei Tage später wird sein Kanal eingeschränkt – nach mehr als zwölf Monaten unzensierter Hetze.Hildmann war einer der ersten, die im Zuge der Corona-Pandemie für alle Welt sichtbar den Kontakt zur Wirklichkeit verloren: Im ersten Lockdown machte er, damals noch bekannt als Kochbuch-Autor, Vegan-Lifestyler und Imbiss-Besitzer, plötzlich mit einer Reihe wirrer Social-Media-Beiträge auf sich aufmerksam. Er sei in den Untergrund geflüchtet, man verfolge ihn, Bill Gates habe Corona kreiert und wolle die Menschheit verchippen. Rund ein Jahr später ist Hildmann im Verschwörungsideologie-Kosmos so weit rechts angelangt, dass er droht von der Scheibe zu fallen.

Auf dem Messenger-Dienst Telegram bombardierte er die Menschen, die ihm noch folgten, zuletzt in Dauerschleife mit Pathos-geladenen Sprachnachrichten, in denen er den Untergang der westlichen Zivilisation heraufbeschwörte, mit aberwitziger Desinformation zu Corona, die er sich in den Tiefen des Internets zusammenklaubte, mit Aufrufen zum bewaffneten Widerstand und vor allem mit offenem Antisemitismus. Das Weltbild, das sich Hildmann in den Monaten der Isolation zusammengebastelt hat, kennt nur einen Feind: „den Juden“. Hildmann stachelte zu Gewalt an, huldigte Hitler und beendete Beiträge auch mal mit „Sieg Heil“-Ausrufen. In den Kommentaren stimmten seine verbliebenen Anhänger mit ein, erklärten das Judentum zur Krankheit und bestätigten den Hassprediger in dem Gefühl, der letzte Rächer der Gerechten zu sein, die einzige Chance, um „das deutsche Volk“ wieder ans Licht zu führen. Wie genau dieses Versprechen eingelöst werden soll, nachdem Hildmann längst vor den deutschen Strafverfolgungsbehörden ins türkische Exil geflüchtet ist, bleibt offen.

Attila Hildmann: Ein Antisemit wie aus dem Bilderbuch

So verstörend Hildmann und seine Einlassungen sind, so irrelevant ist der Telegram-Hetzer mit Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland, und das nicht erst seit der Sperre seines Kanals. Während er im Sommer 2020 zumindest einige Hundert Menschen zu Protest-Spaziergängen oder Autokorsos gegen die Corona-Politik mobilisieren konnte, gelingt es ihm heutzutage höchstens noch, eine handvoll hartgesottener Realitätsverweigerer zu Down-Votes von Youtubevideos zu bewegen. Andere Agitatoren der Verschwörungsbewegungsszene haben sich schon lange von Hildmann distanziert. Ein offenes Bekenntnis zum Rechtsextremismus, das geht vielen dann doch einen Schritt zu weit. Subtiler Antisemitismus ist massentauglicher.

Denn es ist nicht so, dass Hildmanns absurde Behauptungen an sich nicht anschlussfähig sind. Viele der Punkte, die Hildmann propagiert, ziehen sich wie ein roter Faden durch verschwörungsideologische Bewegungen wie zum Beispiel Querdenken, QAnon oder die Reichsbürgerszene. Corona, so machte auch die NRW-Antisemitismusbeauftragte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger jüngst deutlich, sei „ein Nährboden für einfache Erklärungsmuster und Verschwörungsmythen“, die meist antisemitisch konnotiert seien.

Juden als finstere Hintermänner, die Pandemie als großer Plan der Mächtigen, um das Volk zu unterjochen. All diese Behauptungen sind alte Phantasien in neuem Gewand. Was einst die Erzählung der Brunnenvergiftung war, kommt nun als Lüge über vergiftete Impfungen daher. Die Hasspropaganda stößt auf Gehör. Laut einer Studie der Friedrich-Naumann-Stiftung aus dem Juli 2020 glaubten etwa 28 Prozent der Menschen, die Pandemie werde von Eliten benutzt, um die Interessen der Mächtigen durchzusetzen. Immerhin 15 Prozent glaubten, Corona sei eine Biowaffe, mit der zum Beispiel die Bevölkerung reduziert werden soll.

Glaube oder Mittel zum Zweck?

Ob oder wie stark grade die Schlüsselfiguren der Szene selbst an solche Behauptungen glauben, sei von außen schwer zu beurteilen, sagt Pia Lamberty, Sozialpsychologin und Expertin auf dem Gebiet der Verschwörungsglauben-Forschung. Die Gründe, antisemitische und andere verschwörerische Behauptungen zu progieren, seien unterschiedlich, erklärt sie. „Manche glauben daran. Andere wissen, dass sie damit Politik machen und Menschen abfangen können, die man sonst nicht erreicht. Wieder andere wollen damit Geld machen.“ Und Hildmann? „Bei ihm vermute ich, dass er wirklich daran glaubt, was er behauptet.“

Auch Hildmann versuchte zunächst, seine Ansichten zu Politik und Geld zu machen, scheiterte jedoch mit beidem. Seine vollmundige Ankündigung, eine politische Bewegung gründen und Bundeskanzler werden zu wollen, wurde kaum wahrgenommen und verlief im Sande. Und obwohl der Vertreiber von Bio-Lebensmitteln zwischen seinen schrillen Behauptungen auf Telegram immer wieder Werbung für seine Produkte streut, dient die höchstens zur finanziellen Schadensbegrenzung, nachdem ihm sein Gebaren geschäftlich längst das Genick gebrochen hat. Zuerst beendeten Produzenten die Arbeit mit ihm, dann verbannten immer mehr Händler seine Produkte aus dem Sortiment. Hildmanns Imbiss existiert nicht mehr.

Nicht nur wirtschaftlich steht Hildmann isoliert da. Seine „deutsche Familie“, wie er seine Adoptivfamilie nennt, habe er verloren, berichtete Hildmann kürzlich bei Telegram. Seine Mutter habe sich impfen lassen und auch sonst käme er bei seiner Familie mit seinen Versuchen, sie von seinem Glauben zu überzeugen, nicht weiter. Ob Hildmann im türkischen Exil außerhalb seiner Telegram-Aktivitäten irgendeine Form von realem menschlichem Anschluss hat, ist unklar.

Attila Hildmann sucht die Schuld bei anderen

Die Schuld für all das sieht Hildmann nicht bei sich selbst, sondern bei „denen da oben“, bei „den Juden“. Statt seinen Irrglauben zu hinterfragen fühlt sich der Ideologe in einem vermeintlichen Märtyrertum bestätigt. Er wolle sich rächen für all das, was man „ihm genommen“ habe.

In nur 15 Monaten vom umstrittenen aber erfolgreichen Geschäftsmann zum gesellschaftlich isolierten und polizeilich gesuchten Hassprediger: Hildmanns Absturz ist ein Extrembeispiel, aber kein Einzelfall. Auch der prominente Querdenker Bodo Schiffmann setzte sich ins Ausland ab. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft, weil er illegal Atteste für Maskenverweigerer ausgestellt haben soll.

Was sich bei Hildmann und Schiffmann nahezu live und auf der großen Bühne zugetragen hat, spielt sich seit Beginn der Pandemie vermehrt auch im Kleinen ab. In den einschlägigen Telegram-Gruppen berichten Verschwörungsgläubige davon, wie sie ihre Jobs gekündigt haben, weil sie sich nicht testen lassen wollten, wie sich ihre Familien von ihnen losgesagt haben oder wie sie den gesellschaftlichen Anschluss verloren haben, weil „niemand die Wahrheit glauben will“. „Die Wahrheit“, das ist wahlweise, dass der Holocaust nicht stattgefunden habe, dass Corona nicht existiere, dass Tests und Impfungen töten würden oder dass hinter allem ein perfider Plan stecke. Das Realitätskonstrukt, das sich die Betroffenen erschaffen haben und an dem sie selbst um den Preis ihrer Familien festhalten, hat oft nichts mehr mit Verschwörungserzählungen zu tun. Es ist ein radikales Weltbild, das ähnlich religiöser Überzeugungen durch Fakten und Logik kaum noch erschüttert werden kann.

Was treibt Menschen in den Verschwörungsglauben?

Tatsächlich gebe es über Radikalisierungsverläufe in verschwörungsideologischen Szenen bislang verhältnismäßig wenig Wissen, so Lamberty. Am Beispiel von Hildmann könne man aber „gut sehen, was passieren kann, wenn sich jemand obsessiv in diese Welt begibt.“

Zu ergründen, was konkret Menschen, die ein scheinbar stabiles Leben führen, in den Verschwörungsglauben treibt, ist schwierig. Externe Ereignisse können dabei ein Faktor sein, ebenso wie das soziale Umfeld, Bildung oder die charakterliche Veranlagung. Aus psychologischer Sicht spielen laut Lamberty und anderen Experten mehrere Faktoren eine Rolle: Existentielle Motive, wie zum Beispiel das Streben nach Kontrolle und Sicherheit, wenn ein gesellschaftlicher Umbruch wie die Coronakrise die Lebenswirklichkeit infrage stellt. Soziale Motive, wie zum Beispiel das Verlangen nach einer positiven Wahrnehmung, das durch eine Selbstinszenierung als Widerstandskämpfer oder Kämpferin befriedigt werden kann. Aber auch epistemische Motive, zum Beispiel der Wunsch nach subjektiver Gewissheit: Ein konkreter „Feind“ ist vermeintlich greifbarer und einfacher zu verstehen als eine abstrakte Gefahr wie ein Virus.

Vom extremen Typ zum Extremisten

Was genau Hildmanns Angst und Hass befeuert, ist unklar. Sicher ist: Seine radikalen Tendenzen setzten nicht erst mit dem Beginn der Pandemie ein. Bereits zuvor war der Kochbuchautor immer wieder mit problematischem und aggressivem Verhalten und xenophoben Äußerungen aufgefallen. Er hetzte etwa gegen unliebsame Journalistinnen und verbreitete im Zuge der Diskussion um Migrationspolitik ungefilterte Desinformationen zu Einwandererkriminalität. Mit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 setzte die Obsession mit Corona-Verschwörungserzählungen ein. Die fast karikaturistische Dramatik, mit der sich Hildmann dabei selbst ins gesellschaftliche Aus beförderte, lenkte zunächst von dem Antisemitismus ab, der schon von Beginn an deutlich mitschwang. „Zionisten“, „Freimaurer“, „Neue Weltordnung“ – aus den antisemitischen Codes wurde nach Hildmanns Flucht in die Türkei schließlich ungehemmter Hass: gegen Juden, Homosexuelle, Frauen, Politiker und Politikerinnen, Medien, Wissenschaftler und Forscherinnen.

Obwohl die Welt zuschauen konnte, vollzog Hildmann seine Radikalisierung nahezu ungehindert. Erst nach Monaten der Hetze meldete sich die Polizei öffentlich zu Wort. Bis zum Herbst sollte es dauern, bis Einsatzkräfte Hildmanns Wohnsitz durchsuchten. Als im Februar 2021 schließlich ein Haftbefehl erlassen wird, ist es zu spät. Hildmann, der, so der Verdacht, aus Polizeikreisen gewarnt wurde, hatte sich bereits ins Ausland abgesetzt.

Laut Pia Lamberty macht der Fall des Kochbuchautors deutlich, was passieren kann, wenn gesellschaftliche Reaktionen ausbleiben. Zu lange habe man Hildmann gewähren lassen. Ein Phänomen, das Lamberty auch mit Blick auf weitere Verschwörungsbewegungen Sorge bereitet. „Wir brauchen rote Linien. Wenn jemand sich einen sogenannten Judenstern auf den Arm klebt oder sich wie Anne Frank fühlt, muss man sagen: Hier ist eine Grenze überschritten, wir treten mit dir nicht in den gesellschaftlichen Dialog.“ Im vergangenen Jahr sei Antisemitismus immer offener zutage getreten, es sei immer häufiger zu Übergriffen gekommen. „Und die Gesellschaft war still. Das ist ein fatales Signal.“

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Der sogenannte „Judenstern“ als Anti-Impf-Propaganda bei einer Demo in Hessen

Auch die Gesetzgebung müsse mitziehen und zum Beispiel „Judensterne“ auf Demos verbieten. Zudem müsse ein genaueres Auge darauf geworfen werden, wer diese Bewegungen organisiert und koordiniert. „Es gibt Strukturen in Deutschland, die wollen einen Systemsturz. Das sind offene Antisemiten und Rechtsextreme.“ Hätte man diese Netzwerke früher im Blick gehabt, ist Lamberty überzeugt, hätte man die Demos nicht so lang „als besorgte Bürgerproteste abgetan“.

Dass die Verschwörungsbewegungen mit dem Ende des Lockdowns verschwinden, denkt Lamberty nicht. „Zwar wird es aktuell ruhiger, weil auch Verschwörungsideologen lieber in die Kneipe gehen als auf die Straße. Aber im Herbst kommt die Bundestagswahl und das Thema Briefwahl, mit dem Menschen wieder mobilisiert werden können.“

Verschwörungsgläubige aus der Obsession holen

Aber ob nun jüdische Weltverschwörung, Corona, Bundestagswahl oder Klimawandel: Ist es möglich, Menschen, die so tief in die Welt der mutmaßlichen Verschwörungen gerutscht sind, von ihrem Glauben abzubringen? Lamberty ist da eher pessimistisch. „Vielleicht in Einzelfällen. Aber ich glaube man kann sie dazu bringen, sich nicht mehr so obsessiv mit den Themen zu befassen.“

Im Fall von Attila Hildmann ist das unwahrscheinlich. Auch nach der Einschränkung seines Telegram-Kanals am Dienstag setzte er weiter Hass-Posts ab. Gelesen wurde die Hetze nur noch von einem Bruchteil seiner Anhänger.

Weiterführende Informationen zum Thema:

Forschung: Das Center für Monitoring, Analyse und Strategie, kurz CeMAS, bündelt Expertise und forscht zu Themen wie Verschwörungsideologien Antisemitsmus und Rechtsextremismus.

Literatur: In den Büchern „Fake Facts“ und „True Facts“ befassen sich Pia Lamberty und Katharina Nocun ausführlich mit allen Aspekten rund um das Thema Verschwörungserzählungen und damit wie es gelingen kann, dagegen anzukommen.

Hilfe: Beratungsstellen, wie zum Beispiel die des NRW-Familienministeriums, können im Umgang mit und bei Fragen zu Verschwörungsgläubigen im eigenen Umfeld unterstützen.