Wer im Zusammenhang mit der Stationierung von US-Raketen in Deutschland von Eskalation redet, zweifelt letztlich an der Stärke der Demokratie, sagt der Bonner Ethiker Jochen Sautermeister.
Gastbeitrag zu AufrüstungRaketen sichern Frieden
Die Drehzahl der verteidigungs- und sicherheitspolitischen Diskussion hat sich in der deutschen Öffentlichkeit erhöht, seit auf dem Jubiläumsgipfel der Nato in Washington vor einer Woche die Ankündigung erfolgte, dass die USA in Deutschland bis 2026 wieder Mittelstreckenraketen stationieren werde. Neben den Tomahawk-Marschflugkörpern sollen auch Flugabwehrraketen und noch in der Entwicklung befindliche Überschallwaffen ein defensiver und offensiver Teil dieser neuen Abschreckungsmaßnahmen sein.
Diese Maßnahmen verdeutlichen, dass Europa auch in Zukunft auf den Sicherheitsbeistand der USA angewiesen bleibt. Allerdings stehen die europäischen Staaten unter starkem Druck, ihre Ausgaben zur Verteidigungszwecken und zur Bündnissicherung weiter zu steigern. Diese Situation hat sich durch die Nominierung von Donald Trump als Präsidentschaftskandidat der Republikaner und von Senator James D. Vance als Vize-Präsidentschaftskandidat unter dem Eindruck des Attentats auf Trump weiter verschärft.
Die Ankündigung der Abschreckungsmaßnahmen ruft bei vielen Menschen die Erinnerung daran wach, wie vor mehr als 40 Jahren Hunderttausende auf der Bonner Hofgartenwiese gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen demonstrierten. Wenngleich sich Geschichte niemals wiederholt und die heutige Situation durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eine andere ist als damals, können sicherheits- und verteidigungspolitische Argumente aus früheren Zeiten auch heute noch ihre Bedeutung haben.
Damals war der Nato-Doppelbeschluss ein zentrales Element der Abschreckungsstrategie gegen die Sowjetunion und den Warschauer Pakt. Ziel war es, durch militärische Stärke und eine effektive Rückschlagfähigkeit die Sowjetunion davon abzuhalten, Nato-Staaten anzugreifen. In der Rückschau betrachtet kann man sagen: Die Logik der Abschreckung in der Zeit des Kalten Kriegs hat sich als richtig bewahrheitet. So paradox es klingen mag, gerade die Abschreckungsmaßnahmen haben damals den Frieden gesichert.
Heute soll die Stationierung von Tomahawk-Raketen in Deutschland im Jahr 2026 eine Sicherheitslücke schließen und die Verteidigungsfähigkeit der Nato in Europa erhöhen. Während die einen diesen Schritt als Eskalation bewerten, sehen andere darin eine Sicherungsmaßnahme, die im Sinne der Verteidigung gerade nicht eskaliert.
Hier zeigt sich, welche Rolle die Wortwahl für die Bewertung der Stationierungspläne spielt. Wer „eskaliert“, trägt zur Verschärfung eines Konflikts bei und hat dafür eine Mitverantwortung. Denn die Eskalationsmaßnahme gibt Anlass zur Verstärkung eines gegnerischen Bedrohungsgefühls und impliziert ein gewisses Verständnis, wenn der Gegner nun im Gegenzug militärisch weiter aufrüstet.
Weist man dagegen die Bezeichnung der Stationierungspläne als Eskalation zurück, sondern betont diese als Sicherungsinstrument und die zur Stationierung vorgesehenen Raketen als Rückschlag- und Verteidigungswaffen, dann möchte man die Aufmerksamkeit auf den reaktiven Charakter der Maßnahme lenken. Sie wird als Antwort auf den militärischen Aggressor angesehen, dem die Verantwortung für den Konflikt zukommt. Man ist mehr oder weniger gezwungen, dem Angriff beziehungsweise der Bedrohung etwas entgegenzusetzen, so dass die Stationierungspläne gerechtfertigt sind.
Es ist also ein Unterschied, ob man den Begriff „Eskalation“ für wissenschaftliche Beschreibungen verwendet oder für politische Einschätzungen. Gerade im öffentlichen Diskurs und in der Politik wird mit den wertenden Implikationen des Begriffs gespielt. Wer diesen Unterschied nicht beachtet und in Beiträgen markiert, trägt zumindest unfreiwillig zur Verwirrung bei. Wer die Ankündigung der Stationierung von Mittelstreckenraketen im öffentlichen Diskurs als unverantwortliche Eskalation brandmarkt, übersieht oder möchte gezielt verschleiern, dass es sich hierbei um eine Reaktion auf die russische Aggression handelt und dass Russland längst vergleichbare Raketen nach Kaliningrad gebracht hat.
Es steht außer Frage, dass alles getan werden muss, um Krieg zu verhindern und eine friedliche Ordnung zu sichern. Diese friedensethische Prämisse ist jedoch deutlich von der Utopie einer radikalen Gesinnungsethik zu unterscheiden, die in jeglicher Form sicherheitsorientierter Aufrüstung eine kriegerische Eskalation wittert.
Eine sicherheitspolitisch informierte Friedensethik trägt folgender Einsicht Rechnung: Abschreckung im Sinne der Gewaltandrohung zur Kriegsprävention muss der Rationalität und Sensibilität des bedrohenden Akteurs entsprechen, wenn sie wirksam sein will – auch und gerade, wenn man sich für Sicherheit und Frieden einsetzen möchte. Die Beurteilung von Abschreckungsmaßnahmen ist daher maßgeblich kontextabhängig. Sie bedarf der empirischen Abschätzung. Ein friedensethischer Realismus ist unerlässlich, um Verantwortung übernehmen zu können.
Wie die Sicherheits- und die Verteidigungspolitik ist auch die Friedensethik nicht frei von Ambivalenzen. Es bedarf einer militärischen Stärke, um den Frieden im Sinne einer Gewaltfreiheit zwischen Staaten wahren beziehungsweise wiederherstellen zu können. Das ist mit einer machiavellistischen Erfolgsethik unvereinbar, der es um das Recht des Stärkeren geht.
Im Dienst der Abschreckung stellen Maßnahmen zur militärischen Aufrüstung ein Instrument der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik dar, die sich verantwortungsethisch für den Schutz der Bevölkerung einsetzt. Sie legitimiert sich moralisch in einem Rechtsstaat, der auf der Anerkennung der Menschenwürde und der Menschenrechte beruht.
Wer die Stationierung der Tomahawk-Mittelstreckenraketen in der gegenwärtigen Lage im politischen Diskurs ausdrücklich als Eskalation ablehnt, zweifelt letztlich an der Kraft und Glaubwürdigkeit unserer Demokratie.
Zur Person
Jochen Sautermeister, geb. 1975, ist Professor für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Dort gehört er auch dem Interdisziplinären Forschungszentrum „Center for Advanced Strategic, Security and Integration Studies (Cassis)“ an. (jf)