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„Katastrophale Folgen“Bildungsexperte will das Schuljahr bis Weihnachten verlängern

Lesezeit 9 Minuten
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Aladin El-Mafaalani

  1. Aladin El-Mafaalani ist Bildungsexperte und Autor des akutuellen Bestsellers "Mythos Bildung"
  2. Der Sozialwissenschaftler beschäftigt sich vor allem mit dem Thema Bildungsgerechtigkeit und berät das NRW-Familienministerium.
  3. Im Interview warnt er vor er vor einer Versetzung aller Schüler im Sommer. Stattdessen brauche es dringend Konzepte, wie vor allem für Grundschüler der Stoff nachgeholt werden könne.

KölnHerr El-Mafaalani, die Schulen haben nach zwei Monaten zumindest für die Kleinen wieder ihre Türen geöffnet. Wie hat sich die Pandemie auf die Bildungsgerechtigkeit ausgewirkt?Aladin El-Mafaalani: Die Bildungsbenachteiligung bestimmter Schülergruppen hat sich durch die Pandemie noch einmal deutlich verschärft. Es ist ja entgegen der öffentlichen Meinung nicht das Bildungssystem selbst, das Bildungsungleichheit erzeugt. Die entsteht, weil Familie und Umfeld Kindern ungleiche Chancen bieten und es den Schulen nicht gelingt, diese ungleichen Startchancen auszugleichen. Aber für Kinder in prekären Lebenssituationen sind selbst schlechte Schulen im Hinblick auf Benachteiligung besser als keine Schulen. Je länger die geschlossen bleiben, desto weiter geht die Schere auseinander. Daher sind nach zwei Lockdowns jetzt alle zu Recht sehr besorgt.

Wie viel Prozent der Schüler hat man denken Sie in der Pandemie nicht mehr erreichen können, also verloren?

Da kann man nur schätzen. Etwa 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler galten schon vor der Pandemie als Risikoschüler. Das werden nicht weniger geworden sein. Besonders dramatisch wirkt sich das aus in der Grundschule. Kinder, die kurz vor der Pandemie gerade lesen und schreiben gelernt haben, haben das nun teilweise wieder verlernt. Die kommen jetzt nach einem Jahr Pandemie ohne gewisse Basiskompetenzen in die dritte Klasse. Das ist für den weiteren Bildungsverlauf von Kindern in prekären Lebenslagen wirklich nachhaltig und schwerwiegend. Auch weil es bisher in unserem System so war, dass man alles, was man an Defiziten anhäuft, im Laufe der Schulzeit kaum noch kompensieren kann. Zumal ja auch die Zeit zwischen den beiden monatelangen Lockdowns als Unterricht im Krisenmodus kaum etwas wert war. Auch jetzt kann man bei Grundschülern nicht nach zwei Monaten sagen, schön, dass ihr wieder da seid, wir legen los als wäre nichts gewesen. Die müssen erst wieder neu lernen, sechs Stunden auf dem Stuhl zu sitzen.

Was müsste jetzt aus Ihrer Sicht geschehen?

Man muss jetzt dringend Konzepte entwickeln, wie man Dinge wieder aufholt. Denn das wird die zentrale Herausforderung für viele Monate, wenn nicht Jahre sein. Ohne besondere Anstrengung wird das zu Problemen führen, die über viele Jahre nachwirken.

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Das vordergründig einfachste Konzept wäre, einfach alle Schüler ein Jahr länger in der Schule zu lassen – zumindest die Grundschüler.

Das könnte man machen. Aber wenn alle ein Jahr wiederholen, haben wir sofort allein an den Grundschulen 25 Prozent mehr Schüler – bräuchten also 25 Prozent mehr Lehrkräfte. Es gibt aber schon jetzt zu wenige. Und: Wo sollen denn die Kinder sitzen. In Köln gibt es ja jetzt schon nicht genug Räume.

Was schlagen Sie vor?

Die beste Idee wäre, das Schuljahr bis Weihnachten zu verlängern. Dann hätte man ein halbes Jahr mehr, um Stoff aufzuholen, und hätte den Raum- und Lehrermangel nicht. Dann kann man überlegen, ob man auf Dauer ein verschobenes Schuljahr behält, oder ob man danach jedes Jahr das Schuljahr wieder einen Monat früher enden lässt, damit in ein paar Jahren alles wieder normal ist. Der Aufwand würde sich lohnen. Parallel dazu müsste man systematisch überlegen, wie man Förderprogramme in den Ganztag integriert und wie man in allen Ferien in diesem Jahr Förderprogramme installiert. Und wir brauchen kreative Lösungen, um vor allem was für die benachteiligten Kinder hinzubekommen. Warum sollte nicht jeder Lehramtsstudierende Pate von drei benachteiligten Kindern werden und dafür bezahlt werden? Aber dafür müsste man zwischen Kommunen und Bundesländern einen Plan machen. Die Schulen sind derzeit zu belastet, die können solche Förderprogramme nicht aus dem laufenden Betrieb aufsetzen.

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Was wäre die Folge, wenn man einfach im Sommer wieder alle Schüler versetzt und einfach weitermacht?

Zum zweiten Mal – wie schon im letzten Sommer – alle einfach zu versetzen, ohne langfristige Strategie, wie das Verpasste aufzuholen sein wird, das wäre für viele Kinder katastrophal: Das würde bei den Grundschülern zu handfesten Defiziten führen, die man in 30 Jahren noch messen können wird. Je jünger die Kinder sind, desto krasser wäre der Effekt. Bei Acht- oder Neuntklässlern wäre der vergleichsweise harmlos. Von der 5. bis 13. Klasse können Sie wahrscheinlich ein Drittel des Lehrplans ersatzlos streichen, und keiner wird es merken. Aber an den Grundschulen können Sie nichts streichen: es geht um die wesentlichen Kulturtechniken. Es ist erforderlich, dass Kinder den gesamten „Stoff“ können und nicht die Hälfte davon.

Welche Auswirkungen hätte das dann in der Folge auch auf die Gymnasien?

Für die Gymnasien wird das nach den Grundschulen die größte Herausforderung. Über 40 Prozent aller Kinder gehen dorthin, und sie werden nun mit deutlich geringeren Kompetenzen in die 5. Klasse kommen. Bislang haben sich die Gymnasien aber nicht dadurch ausgezeichnet, fehlende Kompetenzen bei Grundschülern auszugleichen. Wer bis zum Ende der Orientierungsstufe nach der 6. Klasse nicht fit ist, der muss die Schule verlassen. Aber diese Logik funktioniert nicht mehr: Sie können nicht alle einfach nach unten durchreichen, wenn alle deutliche Rückstände haben.

Die Pandemie hat in aller Deutlichkeit offengelegt, wo die Mängel in Deutschlands Schulen liegen. Haben Sie Hoffnung, dass sich nach Corona nachhaltig etwas ändert?

Ja, ich bin optimistisch, dass diese Krise Bewegung bringen wird. Es gibt jetzt niemandem mehr, der daran zweifelt, dass dieses System auf dem Zahnfleisch geht. Die Unterversorgung ist so stark, dass das Schulsystem in der Krise nicht mehr in der Lage ist, flexibel zu reagieren. Unsere Schulen sind null digitalisiert, räumlich und personell in einem Zustand, der unserer Gesellschaft nicht würdig ist. Anders als vor der Pandemie ist das Problembewusstsein aber jetzt auf allen Ebenen da. Wir müssen nur noch darüber entscheiden, wie viel Geld und Engagement wir bereit sind, da rein zu stecken. Das ist eine bessere Ausgangssituation für grundlegende Reformen als in den letzten Jahrzehnten. Bis vor einem Jahr sagten sich Landespolitiker, dass es riskant ist, größere Schulreformen anzustreben, heute weiß man, dass es riskant ist, dies nicht zu tun.

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Ungleiche Bedingungen für Grundschüler

Laptops sind aber leichter zu besorgen als Lehrer. Auch das hat die Pandemie gezeigt. Wo sollen die Lehrer nun herkommen?

Ja, daran ist alles gescheitert: Wechselunterricht geht nicht wirklich, wegen zu weniger Lehrkräfte. Ein Jahr wiederholen geht nicht – wegen zu weniger Lehrkräfte. Wer daran etwas ändern will, muss jetzt richtig Gas geben, weil es sehr viele Jahre dauern wird, bis die im System ankommen. Wenn wir mehr Lehrerinnen und Lehrer wollen, brauchen wir auch mehr Studienplätze. Die gibt es noch nicht und die kann man auch nicht so einfach aus dem Boden stampfen. Auch hier muss jetzt endlich ein Plan, eine Strategie her.

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Wie sollte abgesehen von mehr Lehrern eine grundsätzliche Neuaufstellung des Systems aussehen, um die Benachteiligung von Grund auf zu beseitigen?

Schulen müssten viel mehr über die Kinder und ihre Lebensverhältnisse wissen. Sie haben in der Pandemie Wochen gebraucht, um rauszufinden, ob das Kind zu Hause einen Drucker hat oder einen Schreibtisch. Ungleichheit entsteht im häuslichen Umfeld. Wenn ich da nichts drüber weiß, kann ich Benachteiligung nie bekämpfen oder ausgleichen. Das gilt auch für andere Probleme wie Gewalt in der Familie. Dafür bräuchte es in den Schulen multiprofessionelle Teams aus Sozialarbeitern, Psychologinnen, Kunst- und Kulturpädagogen und Berufsberaterinnen. Dann könnte man ab der 1. Klasse systematisch Elternarbeit machen und weiß alles, was man wissen muss. Das ist keine Hexerei und in anderen Ländern wie Kanada Standard. In Deutschland überlässt man alles den Lehrkräften, die dafür nicht ausgebildet und damit überfordert sind. Dabei wäre es so wichtig, hier etwas zu ändern, weil eben nicht der Unterricht in erster Linie für Benachteiligung verantwortlich ist, sondern alles andere.

Was sollte diesbezüglich jetzt konkret getan werden?

Kunst- und Kulturpädagoginnen, Musiklehrer, Sporttrainerinnen etc. sollten zügig systematisch in den Ganztag an der Schule etabliert werden. Dafür bietet sich jetzt eine große Chance, weil das erstmals wirklich alle wollen: Wir haben eine riesige Kultur- und Vereinslandschaft, Musikschulen und Sportvereine, die alle gerne in Schulprojekten mitmachen würden. Bundesweit warten Vereine darauf, in die Schulen gelassen zu werden, weil sie alle Probleme mit dem Nachwuchs haben und gleichzeitig die Schülerinnen und Schüler ganztags mittelmäßig betreut in der Schule rumhängen. In anderen Ländern ist das gang und gäbe. Aber bei uns gibt es diese Tradition nicht. Bislang wollten Schulleitungen das nicht, weil die Verantwortlichkeiten nicht geklärt sind. Aber jetzt will die Mehrheit der Lehrer sowohl multiprofessionelle Teams als auch die Öffnung für schulexterne Akteure, weil der Leidensdruck groß ist. Dafür muss die Politik nun die Rahmenbedingungen schaffen. Und das wichtigste: Auch die bildungsbürgerlichen Eltern wollen das jetzt. Gerade berufstätige Mütter wollen ein qualitativ hochwertiges Angebot im Ganztag der Schule, um die Kinder nicht noch im Elterntaxi zum Bratschenunterricht und zum Reiten fahren zu müssen. Alle Eltern warten also darauf, dass hier Schule Verantwortung übernimmt und qualitativ hochwertige Angebote macht.

Aber das kostet Geld und es darf bezweifelt werden, ob dafür auch wirklich Geld in die Hand genommen wird. Bis jetzt muss um jede einzelne Sozialarbeiterstelle hart gerungen werden….

Das ist eine wichtige Aufgabe der nächsten Bundesregierung, die zu einem Gipfel gemeinsam mit kommunalen Spitzenverbänden und Bundesländer einladen müsste. Dort müsste man gemeinsam überlegen, wie man diese Ziele erreichen kann. Das wird eine ordentliche Stange Geld kosten – jährlich. Das sollte der Bund übernehmen. Das Geld ist aber nur die eine Sache. Wichtiger und schwieriger noch ist, dass sich die Organisation von Schule ändern muss. Kommunen und das Land NRW müssen dringend neu regeln, wer für was zuständig ist.

Im Moment sind Schulleitungen maximal unflexibel. Sie fühlen sich im Korsett der Landesregierung und durften zum Beispiel selbst in Schulen mit vielen Corona-Fällen nicht eigenständig entscheiden, ob sie in den Wechselunterricht gehen oder nicht….

Im Moment zwingt das System alle zu großer Unflexibilität. Alle Schulleiter warten am Wochenende auf die Mail aus dem Ministerium, um zu wissen, was am Montag gilt. Das ist katastrophal. In der akuten Krisensituation ist das jetzt schwer zu ändern. Aber danach ist es eine wichtige Zukunftsaufgabe, Schulen eigenständiger zu machen, weil nur sie wissen, was vor Ort wirklich gebraucht wird. Pädagogisch relevante Entscheidungen müssen vor Ort getroffen werden. Was von oben vorgegeben wird, sind die Standards: Was müssen alle Kinder lernen, wie müssen Lehrer bezahlt werden. Die Realität ist eine andere: Die Schulen werden jedes Halbjahr zugeballert mit Erlassen und Verordnungen, in denen dezidiert beschrieben ist, was zu tun ist. Es ist jetzt auf allen Seiten die Bereitschaft da, das zu ändern. Diese Chance müssen wir nutzen.