AboAbonnieren

Brief an NRW-Ministerin GebauerWieso haben Schülerinnen und Schüler keine Priorität?

Lesezeit 3 Minuten
Yvonne Gebauer

NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer

Sehr geehrte Frau Gebauer,

ein Ministerium ist im Wortsinn ein Dienstamt. Minister oder Ministerinnen sind Sachwalter bestimmter Themen, Anliegen oder Bevölkerungsgruppen. In Ihrem Fall sind es die Kinder und Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen. Zum Schutz der Grundschulkinder vor den Gefahren der Corona-Pandemie und ihren Folgen, den gesundheitlichen wie den sozialen, hatten Sie nach den Weihnachtsferien das Konzept doppelter PCR-Tests an den Grund- und Förderschulen eingeführt. Das erweitere Lollitest-Verfahren war ein zentraler Baustein in der Absicherung des Präsenzunterrichts. Dafür haben Sie viel Lob bekommen – zurecht.

Umso unverständlicher erscheint es, dass Sie dieses Konzept nun kurzfristig vom Tisch genommen haben. Oder haben Sie sich diese Entscheidung aus der Hand nehmen lassen? In jedem Fall gibt es jetzt anstelle von PCR-Tests weniger genaue Antigen-Tests.

Die knappen PCR-Tests, heißt es angesichts der rasant steigenden Omikron-Infektionszahlen und völlig überlasteten Labors, müssten rationiert und nach Priorität zugeteilt werden. So ist das mit begrenzten Gütern. Nicht alle können immer alles bekommen, auch wenn es gute Gründe für eine unbeschränkte Verteilung gäbe.

Haben Kinder keine Priorität?

Dennoch werde ich beim Stichwort „Priorisierung“ stutzig. Wer sind denn diejenigen in unserer Gesellschaft, auf die bevorzugt geschaut und geachtet werden sollte? Die Beschäftigten in Gesundheitsberufen? Sicher. Risikopatientinnen und -patienten? Keine Frage!

Aber wer kommt dann? Haben Kinder im Grundschulalter – besonders gefährdet, weil vielfach ungeimpft und in zwei Jahren Pandemie psychosozial hoch belastet – keine Priorität? Mit Ihrem Beschluss, an der Sicherheit für die Schülerinnen und Schüler zu sparen, setzt sich auf fatale Weise fort, was in der Corona-Krise seit langem kritisiert wird: Die Kleinsten haben augenscheinlich auch die schwächste Lobby.

Welches Signal sendet eine Gesellschaft mit diesem Schritt? Sind Eltern, Lehrer und Kinder nicht „systemrelevant“? Apropos Eltern: Ihnen bürden Sie nun zusätzlich die Last auf, für ein Maß an Sicherheit zu sorgen, das Sie den Kindern in den Schulen nicht mehr bieten wollen.

Das könnte Sie auch interessieren:

Ein Lösungsansatz, der zunächst aus Ihrem Ministerium kam, kommt mir vor wie eine Gesichtswahrung, die die Kinder nicht im Blick hat: Gemeinsame Schnelltests in der Schule, bei denen dann ad hoc die positiv Getesteten aussortiert, isoliert und nach Hause geschickt werden. Sie gehen damit sehenden Auges das Risiko ein, dass bereits Infizierte sich mit allen anderen in der Klasse treffen – und damit potenziell zu Überträgern werden. Die Prozedur ist zudem für die individuell betroffenen Kinder, aber auch für den Klassenverband nicht nur ein Test auf das Coronavirus, sondern auch ein Stresstest, mit womöglich traumatischen Folgen. Man stelle sich nur ein sechsjähriges Kind vor, das positiv getestet wird und coram publico vom Klassenverband isoliert wird.

Die Alternative, dass Eltern nach positivem Pooltest für ihre Kinder am Morgen vor Unterrichtsbeginn einen negativen Bürgertest beibringen sollen, ist ebenso ungenügend. Sie führt zu einer weiteren Belastung der Eltern – und wahrscheinlich auch dazu, dass Kinder aus weniger gut informierten und organisierten Verhältnissen dem Unterricht notgedrungen fernbleiben werden.

Warum hat sich die Landesregierung nicht mit den Prognosen auseinandergesetzt?

Sehr geehrte Frau Gebauer, ich hätte mir gewünscht, dass Ihr Ministerium und die Landesregierung beim Thema Lolli-Tests nicht so schnell aufgibt. Mehr noch: Warum hat sich die Landesregierung nicht frühzeitiger ernsthaft mit den Prognosen der Pandemie auseinandergesetzt? Um die jetzt fehlenden PCR-Kapazitäten in den Labors eher hochzufahren? Warum wird in dieser Krise immer so oft abgewartet, bis die Verhältnisse zu einer Reaktion zwingen? Genau so entsteht der Eindruck, dass die Politik sich in der Pandemie das Heft des Handelns aus der Hand zu nehmen lässt.

Kinder, Schülerinnen und Schüler sind in meinen Augen systemrelevant. Sie sind unsere Zukunft und sollten darum hohe Priorität genießen. Stattdessen sind sie erneut die Leidtragenden einer verkorksten und zudem chaotisch kommunizierten Corona-Politik. Es würde mich interessieren, wie Sie darüber denken.