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Butscha nach dem Abzug - „Die Hölle des 21. Jahrhunderts”

Lesezeit 4 Minuten

Kiew – Überall liegen Leichen. Manche wenigstens noch mit einer Decke verhüllt. Andere einfach so liegen gelassen, neben ihrem Fahrrad oder irgendwo im Straßengraben.

In der ukrainischen Stadt Butscha, 25 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Kiew, bietet sich nach dem Rückzug der russischen Armee ein Bild des Grauens. Auf einer Straße der Kleinstadt mit einst 27.000 Einwohnern sind alle paar Meter leblose Körper zu sehen. Ein Geländewagen mit ukrainischen Soldaten muss ständig ausweichen, wie Videos zeigen. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko spricht von „Völkermord”.

Es sind verstörende Aufnahmen aus der Kiewer Vorstadt, die seit Beginn des Kriegs vor jetzt schon mehr als fünf Wochen heftig umkämpft war. Ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, Mychajlo Podoljak, verbreitet auf Twitter Bilder von erschossenen Männern. Einem von ihnen sind die Hände auf dem Rücken gefesselt. „Die Hölle des 21. Jahrhunderts”, schreibt Podoljak dazu.

Friedhöfe der Stadt reichen nicht aus

In einem Massengrab werden etwa 280 Menschen beigesetzt, die in Butscha zuhause waren und wegen der Kämpfe bislang nicht unter die Erde gebracht werden konnten. Die drei Friedhöfe der Kleinstadt reichen nicht aus.

Erst kurz vor Bekanntwerden des Massakers hatte die Ukraine bekanntgegeben, im Gebiet um die Hauptstadt Kiew mehr als 30 Dörfer zurückerobert zu haben. Die Behörden im Nordosten der ehemaligen Sowjetrepublik berichten, dass sich russische Soldaten ins eigene Land zurückzögen. Der britische Geheimdienst bestätigt das. Die russische Militärführung hatte vor einigen Tagen selbst erklärt, ihre Angriffe auf den Osten und Süden des Nachbarlands konzentrieren zu wollen. Anderswo sieht man nun, was in den letzten fünf Wochen passiert ist.

Das Filmmaterial aus Butscha, das nach dem Abzug öffentlich wird, zeigt das ganze Ausmaß der Zerstörung. Eine Drohne mit einer Kamera fliegt über zerstörte und teilweise ausgebrannte Panzer. Die Szene erinnert an einen riesigen Schrottplatz. An vielen Wohnhäusern fehlen die Dächer. Zu sehen sind auch Reste von Raketen. Auch aus anderen Orten und Kleinstädten, aus denen die Russen abgezogen sind, gibt es Bilder mit schwerer Zerstörung.

Internationales Entsetzen

Das Entsetzen ist groß, weit über die Grenzen der Ukraine hinaus. „Das, was in Butscha und anderen Vororten von Kiew passiert ist, kann man nur als Völkermord bezeichnen”, sagt Bürgermeister Klitschko der „Bild”. In Berlin macht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Moskau direkt für schwere Kriegsverbrechen verantwortlich. „Die Bilder aus Butscha erschüttern mich”, so der langjährige SPD- Außenminister. „Sie erschüttern uns zutiefst.” Die EU will ihre Sanktionen jetzt nochmals verschärfen und später die Verantwortlichen für das Massaker auch vor Gericht bringen.

Mehrere Stunden nach dem Auftauchen der Fotos meldet sich am Sonntagabend das russische Verteidigungsministerium - und weist die Schuld von sich. „In der Zeit, in der die Siedlung unter der Kontrolle der russischen Streitkräfte stand, hat kein einziger Einwohner unter irgendwelchen Gewalttaten gelitten”, heißt es in einer Mitteilung. Die russischen Soldaten hätten den Kiewer Vorort bereits am vergangenen Mittwoch verlassen.

Die russische Opposition sieht die Verantwortung ebenfalls bei Präsident Wladimir Putin. „So sieht die von Putin arrangierte „Verteidigung der russischen Welt” aus”, meint die Sprecherin des inhaftierten Kremlgegners Alexej Nawalny, Kira Jarmysch. Was in Butscha geschehen sei, habe nichts mit Krieg zu tun. „Krieg bedeutet einen mehr oder weniger gleichberechtigten Kampf zwischen beiden Seiten - das aber ist Völkermord.”

Hinrichtungen und Plünderungen

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft der russischen Armee Kriegsverbrechen wie Hinrichtungen und Plünderungen vor. Sie veröffentlicht am Sonntag einen Bericht über regelrechte Hinrichtungen, der sich auf die Schilderung von Augenzeugen stützt. Dazu gehört auch die Erschießung eines Mannes am 4. März in Butscha, noch in den ersten Tagen des Kriegs. Ein Zeuge berichtete, dass fünf Männer von Soldaten gezwungen worden seien, am Straßenrand niederzuknien. Dann hätten die Russen ihnen die T-Shirts über den Kopf gezogen und einem von ihnen von hinten in den Kopf geschossen.

Der ukrainische Präsidentenberater Podoljak spricht von einem „Srebrenica des 21. Jahrhunderts”. Beim Völkermord im bosnischen Srebrenica hatten serbische Truppen 1995 die dortige UN-Schutzzone überrannt und mehr als 8000 Bosniaken - muslimische Bosnier - ermordet. Das Massaker gilt als schlimmstes Kriegsverbrechen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa.

© dpa-infocom, dpa:220403-99-780038/3 (dpa)