Caritas-Rückkehrer„Die Taliban werden sich anpassen müssen“
Freiburg – Stefan Recker (57) arbeitet seit mehr als 20 Jahren für verschiedene Hilfsorganisationen in Afghanistan, seit 2014 leitet er das Büro der Caritas International in Kabul. In dieser Woche ist er mit Hilfe der Bundeswehr ausgeflogen worden.
Herr Recker, am Dienstag sind Sie aus Afghanistan ausgeflogen worden. Unter sehr dramatischen Umständen. Wie haben Sie das erlebt?
Ich war mit Unterbrechungen 15 Jahre in Afghanistan, auch während der ersten Taliban-Zeit, und seit 2014 bis jetzt als Leiter des Büros von Caritas International in Kabul. Ich habe ein dickes Fell. Aber meine Abreise am Dienstag war schon aufregend. Über Whatsapp kam die Nachricht, wir sollten zum Flughafen an ein bestimmtes Tor kommen. Erst waren wir am falschen Tor, dann kam mein Fahrer nicht weiter wegen der Menge, außerdem wurde geschossen. Das letzte Stück bin ich gelaufen, was ich sonst in Kabul nie machen würde. Die Menge wogte vor den Soldaten, ich hielt meinen Pass hoch. Ein US-Soldat zog mich raus, ich wurde durchsucht. Vier Stunden später stand ich hinter einem Airbus der Luftwaffe. Es ging nach Taschkent und nach einem Corona-Test weiter nach Frankfurt. Ich bin den Bundeswehrsoldaten und Soldatinnen sehr dankbar, die uns ausgeflogen haben.
Wie sieht Ihre Arbeit seit der Rückkehr aus?
Jetzt arbeite ich von Freiburg aus. Im Kabuler Büro arbeiten afghanische Teams, seit dieser Woche nur Männer, bald hoffentlich auch wieder Frauen. Ich hoffe, dass wir auch unter den Taliban arbeiten können. Ende der 1990er Jahre ging das ja auch. Ich möchte lieber heute als morgen zurück, aber ich will keine Aufmerksamkeit auf das Büro lenken und niemanden gefährden. Und es gibt keine Flüge. Ich kann der Bundeswehr schlecht sagen: Bringt mich zurück.
Warum wollen Sie wieder nach Kabul?
Weil ich gerne bei meinen Mitarbeitern wäre, wenn es mal eng, jemand verhaftet wird. Als Ausländer mit langer Erfahrung kann man da ein bisschen mehr drehen als ein nationaler Mitarbeiter. Ich bin ein bisschen älter, dicker, habe einen weißen Bart. In Deutschland würde man über mich lachen, aber in Afghanistan verschafft einem das schon Respekt. Und unser Programm muss ja auch weiterlaufen, wenn die Banken mal wieder geöffnet haben.
Wie viele Mitarbeitende haben Sie noch in Kabul?
Wir haben jetzt noch 27 nationale afghanische Kolleginnen und Kollegen in Afghanistan. Von denen ist noch niemand ausgereist. Alle stehen auf einer Liste, die wir der Bundesregierung weitergegeben haben. Von dort soll sie an den Krisenreaktionsstab des Auswärtigen Amts und weiter an die Bundeswehr am Flughafen gereicht werden. Die Menschen sollen angerufen werden, wenn es einen Flug gibt.
Welche Möglichkeiten haben Ihre Mitarbeitenden jetzt noch?
Ich habe ihnen geraten, zunächst ihre persönliche Bedrohungslage zu analysieren und dann entscheiden, was zu tun ist. Da gibt es ja durchaus Unterschiede. Eine Frau, die bei uns in einem sozialen Programm oder der Frauenförderung gearbeitet hat, ist sicher gefährdeter als ein Wächter oder ein Fahrer. Besondere Sorgen machen wir uns vor allem um unverheiratete Frauen, da ihnen etwa Zwangsheiraten drohen.
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Die eigene Bedrohungslage analysieren klingt ziemlich nüchtern. Wie stellen Sie sich das in der Praxis vor?
Jeder Afghane, der in Kabul lebt, hat Beziehungen zu seinen Wurzeln in seinem Dorf. Dort könnte man versuchen, bei Verwandten Unterschlupf zu finden. Eine andere Möglichkeit wäre, ins benachbarte regionale Ausland zu fliehen, nach Pakistan, in den Iran, nach Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan. Wir haben in jedem dieser Länder auch eigene Büros. Dort können unsere Leute um Hilfe bitten und wir werden sie weiter unterstützen.
Sind die Grenzen überhaupt durchlässig?
Nach Pakistan in jedem Fall. Das ist eine künstliche Grenze, die mit ethnischen Gegebenheiten nichts zu tun hat. Zum Iran gibt es schon Patrouillen und auch Berichte über übelste Misshandlungen von afghanischen Flüchtlingen. Aber es ist möglich. Bei den drei anderen Ländern ist es vor allem der Amudarja, ein breiter Grenzfluss, der eine Flucht erschwert. Aber auch das geht. Die Situation am Flughafen von Kabul ist dramatisch und wird nicht einfacher werden. Gerade für Familien mit Kindern sehe ich das als großes Problem an. Da wird halt überall geschossen. Mit Kalaschnikovs und schweren Maschinengewehren. Da herrscht das totale Chaos.
Was bleibt dann übrig?
Untertauchen, verstecken, bis vielleicht etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Vielleicht setzt sich die etwas konziliantere Fraktion der Taliban durch und wir können mit unserem Personal in einem geschützten Rahmen weiterarbeiten. Ich bin Berufsoptimist. Sonst säße ich nicht hier. Die Taliban sind ja nicht blöd. Die wissen, dass sie ohne ausländisches Geld nicht weiterkommen. Sie müssen das Land entwickeln, die Nothilfe in Angriff nehmen. Sie werden sich an bestimmte Gegebenheiten halten müssen. Wenn sie die Frauenrechte wieder radikal auf Null zurückfahren wie in den 1990er Jahren, wird es keine Strukturhilfe geben. Deutschland hat jedes Jahr rund 400 Millionen Euro gezahlt. Aber leider nie richtig nachgehalten, wohin dieses Geld eigentlich geflossen ist.
Worin unterscheiden sich die Taliban heute von denen in den 1990er Jahren?
Die Taliban 1.0, so nenne ich sie gern, sind nach dem Fall der Kommunisten und einem schlimmen Bürgerkrieg tatsächlich als Retter aufgetreten und teilweise auch so gesehen worden. Damals sind ganze Stadtviertel Kabuls zu Plünderungen freigegeben worden. Das ging einher mit übelsten Menschenrechtsverletzungen. Das ist jetzt anders. Die Regierung war zwar in Teilen auch korrupt, aber es hat bisher keine Massenfluchtbewegung gegeben. Die Taliban 2.0 können sich nicht mehr als Retter der Nation darstellen. Es gibt inzwischen eine Zivilgesellschaft mit Kunst und Kultur, mit rechtstaatlichen Organen, mit Frauenrechten, mit einer für die Region erstaunlich freie Presse. Wir müssen abwarten, was davon überleben wird, wie die Taliban 2.0 damit umgehen. Selbst wenn eine fundamentalistischere Fraktion an die Macht käme, glaube ich nicht, dass sie genauso regieren wird wie in den 1990er Jahren. Der zweite Unterschied besteht darin, dass nach dem Bürgerkrieg eine riesige Armut herrschte. Auch das ist jetzt anders.
Muss man nicht zwischen den Städten und dem Land unterscheiden?
Natürlich. Die Taliban sind eine ländliche Bewegung. Für die Landbewohner kommt alles Schlechte aus den Städten. In den Städten sind Intellektuelle, die lesen und schreiben können und teilweise eine universitäre Ausbildung haben. Die Landbevölkerung sieht die Stadtbevölkerung als Bedrohung an.
Im Bundestagswahlkampf in Deutschland fällt vor allem von Seiten der CDU immer wieder der Satz, eine Fluchtbewegung wie 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Was sagen Sie dazu?
Ich glaube nicht, dass wir die gleiche Situation wie 2015 erleben werden. Die Bundeswehr hat alles in Afghanistan versucht, aber das politische Rahmenprogramm der Bundesregierung hat nicht gestimmt. Die von der Bundesregierung und anderen Gebern finanzierten Maßnahmen haben sich lange auf den Aufbau von Strukturen konzentriert. Das hat nicht unbedingt den Ärmsten im Land geholfen, sondern wegen fehlender Rechenschaft zu einem Anstieg der Korruption geführt. Dass man auf dem Rücken derer, die man eigentlich retten sollte, jetzt in Deutschland Politik macht, finde ich beschämend.
Was ist bei der Afghanistan-Politik der Europäer und Amerikaner fehlgelaufen?
Ich war in Afghanistan von Januar 2000 bis Februar 2004, von Oktober 2008 bis November 2011 und jetzt mit der Caritas seit Mitte 2014. Bei meinen beiden ersten Einsätzen mit anderen Hilfsorganisationen haben wir nicht unbedingt die Ärmsten unterstützt und versucht, deren Lebensbedingungen zu verbessern, sondern uns auf die Mittelklasse und teilweise sogar auf die Oberklasse auf dem Land konzentriert. Die Taliban haben sich aus der armen Landbevölkerung rekrutiert. Außerdem wurden die Warlords für die Verbrechen der Vergangenheit nie zur Verantwortung gezogen. Da hat die Politik kein kohärentes Konzept gehabt, bei dem alle Staaten zusammenarbeiten. Der Hauptdrogenanbau zum Beispiel ist im Süden des Landes. Der Süden war unter amerikanischer und britischer Besatzung. Da wurde nie wirklich etwas gegen Heroin unternommen. Das war und ist die Haupteinnahmequelle der Taliban.