Gastbeitrag von Armutsforscher„Wirtschaftliche Krisen treffen zuerst die Bedürftigen“
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In sozialer Hinsicht sind Arme, Bedürftige und Benachteiligte die Hauptleidtragenden der Pandemie.
Da die Lebensmitteltafeln, an denen 1,65 Millionen Menschen regelmäßig versorgt werden, geschlossen sind und Hamsterkäufer günstige Nahrungsmittel horten, haben Arme immer weniger zu essen.
Was ist dagegen zu tun? Retten kann uns nicht der vergötterte Markt, sondern nur ein funktionsfähiges, gut ausgestattetes Gesundheits- und Sozialsystem. Ein Gastbeitrag.
Köln – Die Corona-Pandemie, das ist jetzt bereits klar, stellt den Sozialstaat auf die härteste Bewährungsprobe seit der deutschen Vereinigung, vielleicht seit dem Zweiten Weltkrieg.
In nächster Zeit dürfte sich bestätigen, was den politisch Verantwortlichen schon zu Beginn der Reformen, die sie um Jahrtausendwende umgesetzt haben, hätte bewusst sein können: Ein teilprivatisiertes, gewinnorientiertes Sozial- und Gesundheitssystem garantiert keine optimale medizinische Behandlung der Kranken und in Krisensituationen wie der gegenwärtigen keine Versorgungssicherheit.
Budgets sowie das unter Helmut Kohl eingeführte und unter Gerhard Schröder allgemeinverbindlich gemachte Fallpauschalensystem für die Krankenhäuser sind der Extrembelastung durch eine Pandemie nicht gewachsen.
Alte, Schwache und chronisch Kranke – das wissen wir unterdessen – haben ein deutlich höheres Risiko, von Covid-19 dahingerafft zu werden, als Junge, Starke und Gesunde. Auch in sozialer Hinsicht sind Arme, Bedürftige und Benachteiligte die Hauptleidtragenden der Pandemie. Obdachlose, Bettler oder Verkäufer von Straßenzeitungen erhalten keine Spenden, weil die Passanten fürchten, sich anzustecken.
Da die Lebensmitteltafeln, an denen 1,65 Millionen Menschen regelmäßig versorgt werden, geschlossen sind und Hamsterkäufer günstige Nahrungsmittel horten, haben Arme immer weniger zu essen. Zusammen mit der Sperrung von Spielplätzen belastet die Schließung von Kindertagesstätten, Schulen und Freizeiteinrichtungen für Jugendliche die Familien in beengten Wohnverhältnissen extrem stark.
Wirtschaftliche Krisen treffen immer zuerst die Einkommensschwachen. Das gilt für prekär Beschäftigte, Leiharbeiter und Randbelegschaften ebenso wie für Soloselbstständige, manche Freiberufler und Kleinunternehmer, die über zu geringe finanzielle Rücklagen verfügen, um eine ökonomische Durststrecke überstehen zu können. Kündigungen und Konkurse werden nicht ausbleiben, während Spekulanten die Kursstürze an den Börsen sogar nutzen dürften, um begehrte Aktien günstig zu erwerben.
Mehr als eine Million Seniorinnen und Senioren bessern ihre Rente durch einen Minijob auf, darunter fast 200 000 Menschen, die 75 Jahre oder älter sind. Wenn ihr Arbeitgeber keine Aufträge mehr hat und in wirtschaftliche Bedrängnis gerät, erhalten sie im Unterschied zu sozialversicherungspflichtig Beschäftigten kein Kurzarbeitergeld.
Den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat nichts mehr geschwächt als die wachsende sozio-ökonomische Ungleichheit
Was ist dagegen zu tun? Minijobs müssten jetzt in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt und Ausnahmeregeln für die Betroffenen geschaffen werden. Da die Versorgung durch Suppenküchen ausfällt, ist die befristete Gewährung eines Ernährungszuschlags von etwa 100 Euro monatlich auf den Regelsatz von Hartz IV und auf die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung beziehungsweise Hilfe in besonderen Lebenslagen überfällig.
Wenn die Miete wegen Verdienstausfalls oder ausbleibender Aufträge nicht bezahlt werden kann, wäre eine Notfall-Komponente im Wohngeld die Lösung. Mieterhöhungen, Räumungsklagen und Zwangsräumungen müssen für eine Übergangszeit ausgesetzt werden.
Den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat nichts mehr geschwächt als die wachsende sozio-ökonomische Ungleichheit. Gemeinschaftssinn, Mitmenschlichkeit und soziales Verantwortungsbewusstsein bleiben auf der Strecke, wenn sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Aber die Corona-Pandemie bietet neben großen Gefahren, wie zum Beispiel einem weiteren Ausbau des staatlichen Kontroll-, Überwachungs- und Repressionsapparates, den manche Länder derzeit schon erleben, auch gewisse Chancen.
Vielleicht erfährt der Wohlfahrtsstaat aufgrund des aufopferungsvollen Einsatzes von Ärzten, Sanitätern, Kranken- und Altenpflegern in der Corona-Krise wieder mehr öffentliche Wertschätzung. Bis zum Höhenflug des Neoliberalismus, der den Wohlfahrtsstaat wahlweise als bürokratisches Monster, bequeme soziale Hängematte oder als Klotz am Bein des Wirtschaftsstandorts verunglimpfte, waren die meisten (West-)Deutschen zu Recht stolz auf ihren Sozialstaat. Möglicherweise besiegelt die Pandemie nun das Scheitern des Neoliberalismus und bewirkt eine Kehrtwende.
Marktradikalismus war gestern. In Zukunft gilt: Retten kann uns nicht der von den meisten Ökonomen, aber auch Politikern und Publizisten vergötterte Markt, sondern nur ein funktionsfähiges, gut ausgestattetes Gesundheits- und Sozialsystem. Wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass die Sozial- und Gesundheitspolitik der vergangenen Jahrzehnte unserem Gemeinwesen geschadet hat und Solidarität statt Wettbewerbswahn und Ellenbogenmentalität herrschen muss, hätte das Virus für die Gesellschaft am Ende auch etwas Gutes bewirkt.
Von Christoph Butterwegge erschien 2019 das Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“ (Verlag Beltz Juventa), 24,95 Euro.