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Corona-MaßnahmenWarum wir unseren Blick auch auf Australien richten sollten

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Kontrolle in Australien: Nach einem lokalen Corona-Ausbruch in Melbourne wurde die Grenze von Victoria zum benachbarten Staat New South Wales  wieder geschlossen.

Köln – Von einer „Flucht vor der Apokalypse“ ist die Rede und von einem „schrecklichen Déjà-vu“. Gemeint ist nicht etwa New York oder Kalifornien. Gemeint ist auch nicht Ceará, São Paolo oder Rio de Janeiro. All diese Regionen eint, dass die rasante Verbreitung des Coronavirus dort verheerende Folgen mit sich brachte. Nein, diese Zitate kommen von Bewohnern des australischen Bundesstaates Victoria. Nachdem es wegen missachteter Abstands- und Hygieneregelungen in sogenannten Quarantäne-Hotels in Melbourne einen Corona-Ausbruch mit mehr als 100 Neuinfektionen gegeben hatte, geht die Angst vor einer zweiten Infektionswelle um.

Dabei hat es dort – im Kontext des globalen Infektionsgeschehens – nicht mal eine erste Welle gegeben. Bei rund 9000 Australiern wurde bislang eine Erkrankung an Covid-19 nachgewiesen, 106 Menschen sind gestorben. Zum Vergleich: NRW mit rund 1700 Toten bei knapp 45 000 Fällen oder gar der US-Bundesstaat New York mit 405 000 Infizierten und 32 000 Toten erreichen bei vergleichbarer Bevölkerungszahl ganz andere Dimensionen. Ähnlich wie Neuseeland hat es Australien bislang geschafft, mit strikten Regelungen und einer Abschottung die Pandemie unter Kontrolle zu bringen. Die Lockerungen kamen in den vergangenen Wochen in Häppchen. Das ist nun vorbei.

Sechswöchige Ausgangssperre in Melbourne

Daniel Andrews, Ministerpräsident Victorias, verhängte eine sechswöchige Ausgangssperre über die Metropolregion Melbourne. Fünf Millionen Menschen dürfen nur noch zum Einkaufen lebensnotwendiger Dinge, zum Arbeiten, Sport treiben und für die Versorgung von Angehörigen ihre Häuser verlassen. Jeder fünfte Australier muss wieder auf große Teile seiner Freiheitsrechte verzichten. Nachdem New South Wales angekündigt hat, die Grenze zu schließen, kam es auf den Straßen zu chaotischen Szenen. Tausende Einwohner des benachbarten Staates traten gleichzeitig die Heimreise, die „Flucht vor der Apokalypse“ an. Wegen eines lokalen Ausbruchs, dessen Dimension allein in NRW in den vergangenen Wochen mehrfach übertroffen wurde. Ist das schon Panik – oder noch berechtigte Sorge? Diese Frage lässt sich auch heute – vier Monate, nachdem das Virus den Alltag hierzulande auf den Kopf stellte, nicht seriös beantworten.

Die Schwierigkeit in der Bewertung von Lockdown-Maßnahmen und der folgenden Aufhebung derselben liegt in der Natur dieses neuartigen Virus. Es gibt keine Blaupause, eine Pandemie dieses Ausmaßes ist bislang schlicht einzigartig. Wenn man aus dem eigenen Erfahrungsschatz des Vergangenen nicht schöpfen kann, bleibt keine andere Möglichkeit, als auf den Umgang der Anderen mit der Krise zu blicken.

Jede Infektion ist eine zu viel

Während sich unser Fokus im Laufe der Pandemie westwärts verschob – von Wuhan über Bergamo nach New York und Kalifornien – blieb die südliche Halbkugel weitgehend außerhalb des Blickfeldes. Weshalb das so ist, liegt auf der Hand: Australien und auch Neuseeland lieferten keine Bilder von überfüllten Krankenhäusern, von verzweifelten Ärzten, die Triage-Entscheidungen zu treffen hatten. Zwar gibt es auch dort Sorgen vor wirtschaftlichen Konsequenzen. Die Sorge vor einer möglichen zweiten Infektionswelle, die das gesamte Land über einen noch längeren Zeitraum lahm legen würde, ist noch größer. Die australische Perspektive war von Anfang an eine andere: Jede Infektion ist eine zu viel.

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Nun antworten Politiker in Regierungsverantwortung hierzulande auf Kritik an schnellen Lockerungen gerne mit dem Verweis auf die zu treffende Abwägung von epidemiologischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Noch lieber zeigen sie mit dem Finger auf andere, von der Krise hart getroffene Länder. „Seht her, wir kommen im Gegensatz zu denen mit unseren Maßnahmen gut durch die Krise!“, so der Tenor. Das ist auch richtig.

Es gibt aber auch eine andere Perspektive, in diesem Fall die australische. Diese wahrzunehmen, die Maßnahmen und deren Folgen für sämtliche Lebensbereiche zu beobachten und im Zweifel daraus zu lernen, gehört genauso dazu. Einig sind sich Wissenschaftler, dass eine zweite Welle unvorhersehbaren Schaden für unser Land bringen würde. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel stellte die These auf, dass sich alle großen weltgeschichtlichen Vorgänge zwei Mal ereignen würden. Karl Marx sagte dazu: „Er hat vergessen hinzuzufügen: Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Eine Farce zu verhindern, ist unsere Aufgabe.