Serra Bucak ist OB der mehrheitlich kurdisch geprägten Millionenstadt Diyarbakir im Südosten der Türkei. Die türkische Regierung droht mit Gefängnis. Wie lebt es sich mit der Angst?
„Darf die Türkei nicht verlassen“Kurdischer Politikerin aus Köln droht Gefängnis
Acht Jahre ließ der türkische Ministerpräsident Erdogan die mehrheitlich von Kurden bewohnte Millionenstadt Diyarbackir im Südosten des Türkei zwangsverwalten. Seit April ist Serra Bucak demokratisch gewählte OB – jetzt droht ihr Gefängnis. Die Erdogan-Regierung hat in den vergangenen Wochen bereits mehrere demokratisch gewählte Bürgermeister der kurdischen Dem-Partei in umliegenden Städten abgesetzt und die Städte unter Zwangsverwaltung gestellt. Auch Bucaks Vorgänger 2019 wurde abgesetzt, er sitzt bis heute im Gefängnis. Bucak hat sieben Jahre während ihres Studiums in Köln gelebt und dort eine zweite Heimat gefunden. Ein Interview.
„Frau Bucak, mit welchen Begründungen hat die Regierung Ihre Amtskollegen abgesetzt?“
Serra Bucak: Die angeblichen Vorwürfe stehen in nicht-öffentlichen Akten, die Anwälte haben keinen Zugriff darauf. Das hat Methode. Es werden auch Zeugen erfunden. Gegen mich habe ich offiziell habe ich bislang kein Verfahren. Aber ich bin mir sicher, dass einige noch nicht veröffentlichte Akten auf mich warten - sobald die Regierung den Startschuss dafür gibt. Vermutlich war ich dann auf einer verbotenen Demonstration. Die Begründungen sind sehr willkürlich.
Wie bewerten Sie persönlich die Absetzungen?
Es gab in der Türkei eine Demokratisierung, die seit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 immer mehr verschwunden ist. Nach dem Putschversuch 2016 hat die Regierung den Ausnahmezustand verhängt und ihn für weitreichende Übergriffe genutzt. Sie behaupten meist - ohne jegliche Beweise -, dass die abgesetzten Bürgermeister mit der Terror-Organisation PKK zusammenarbeiten. Meine Partei, die sich für die Sprache und Kultur der Kurden einsetzt, hat immer mehr Kommunalwahlen im Land gewonnen. Das ist für die Regierung und ihre Ideologie sehr gefährlich. Diese Gefahr möchten sie bannen. Außerdem wird in den verlorenen Kommunen Geld erwirtschaftet, das sie dringend brauchen, weil die Türkei in einer tiefen wirtschaftlichen Krise steckt. Und weil Erdogans AKP-Partei auch in Istanbul die Wahl verloren hat, schwindet ihr wirtschaftlicher Einfluss. Die Regierung ist zudem sehr patriarchal. Es stört sie, dass wir hier so fortschrittlich sind, was Frauen-Emanzipation angeht.
Sich für die kurdische Oppositionspartei zur Oberbürgermeisterin wählen zu lassen, ist gefährlich. Haben Sie keine Angst?
Angst nicht, Bedenken schon. Mein Vorgänger sitzt immer noch im Gefängnis. Es kann also gut sein, dass es schief geht. Es wird sogar wahrscheinlich schiefgehen. Aber irgendjemand muss den Job ja machen. Viele Menschen hatten Bedenken, zu kandidieren. Das ist einerseits verständlich, andererseits habe ich mich dadurch fast ein bisschen gezwungen gefühlt, zu kandidieren.
Sie haben einen kleinen Sohn und eine Tochter. Können Sie noch ruhig schlafen?
Ich bin so müde, dass ich schlafen muss. Von meinen abgesetzten Bürgermeister-Kollegen weiß ich, dass sie immer schon um fünf Uhr aufgestanden sind, um sich anzuziehen. Sie wollten nicht in Pyjamas abgeführt werden von der Polizei, die oft sehr früh kommt. Mir ist das egal. Dann mache ich eben im Pyjama die Tür auf, wenn sie mich abholen.
Warum kommt diese Absetzungs-Welle jetzt? Es gab doch Zeichen der Annäherung: Der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan wurde ja sogar eingeladen, im türkischen Parlament sprechen.
Wir verstehen die Strategie auch nicht. Erdogan braucht die kurdische Partei, weil er nur mit ihren Stimmen die Verfassung ändern kann, um zum dritten Mal als Präsident zu kandidieren. Am Tag des Bombenanschlags in Ankara durfte Öcalan zum ersten Mal seit vielen Jahren Haft im Gefängnis wieder Besuch empfangen. Jetzt setzt Erdogan wieder Zwangsverwalter ein. Unsere Stimmen für eine Verfassungsänderung wird er ohnehin nicht bekommen, ist meine persönliche Meinung.
Die Regierung hat Angst vor einem eigenständigen kurdischen Staat. Fordert Ihre Partei den?
Nein. Wir sind schon seit mehr als zwölf Jahren weit davon entfernt, ein autonomes Gebiet zu fordern. Die kurdische Bevölkerung kann sich sehr gut an neue Ideen anpassen. Wir wollen lieber die Türkei demokratisieren. Die Regierung wird ihre Angst vor einem eigenen kurdischen Staat aber nie loswerden, sie hat auch Angst davor, dass das Gleiche in Syrien passieren könnte. Mit Angst kann man aber nicht leben. Mit Angst verliert man die Jugend, die aus der Türkei flieht. Man verliert eine Gegenwart, die schön gelebt werden könnte. Die Türkei ist ein schönes Land mit vielen Vorteilen. Leider erleben wir immer nur die Nachteile.
Diyarbakir stand bereits acht Jahre lang unter Zwangsverwaltung, ehe Sie ins Amt gewählt wurden. Wie hat sich das ausgewirkt?
Sehr negativ. In dieser Stadt ist in den vergangenen Jahren kaum etwas gemacht worden. Unsere Infrastruktur wurde kaputt gemacht, acht Jahre lang wurden keine Kanäle gesäubert. Das macht jetzt sehr viele Probleme. Wir haben viele Grünflächen verloren, weil die Flächen bebaut wurden. Alle kulturellen Veranstaltungen, die wir auf türkisch und kurdisch abgehalten haben, wurden türkisiert. Sie haben ein Riesenproblem damit, dass wir versuchen, unserer Kultur und Sprache am Leben zu erhalten. Sie wollen unsere Identität auslöschen, wir sollen noch assimilierter werden als ohnehin. Und es gab eine soziale Deformation: Die Menschen wollten gar nicht mehr ins Rathaus kommen, die Verbindung brach völlig ab, nachdem 2016 die Rathaus-Mitarbeitenden mit Sicherheitskräften rausgeworfen wurden. Der Zwangsverwalter konnte sich nicht auf der Straße zeigen. Dass ein demokratisches Wahlergebnis aberkannt wird, ist sehr demütigend für diese Gesellschaft. Das vergessen sie nie.
Was macht Ihnen in dieser sehr schwierigen Situation Hoffnung?
Zurzeit vermisse ich vieles. Seit dem Sommer darf ich die Türkei nicht mehr verlassen. Aber ohne Hoffnung geht es nicht. Ich bekomme sie durch die vielen Kurdinnen und Kurden, die sich für unsere Sache eingesetzt haben. Wir haben das Recht auf unserer Seite: Wir wollen eine demokratische Lösung in diesem Land und die Lösung der kurdischen Frage auf einem friedlichen Weg. Hoffnung gibt mir, dass ich jeden Morgen aufstehe und unendlich viele Sachen erledigen muss. Wir haben dieser Stadt so viel versprochen. Wenn ich hoffnungslos wäre, sähe man das meinem Gesicht an. Ich stehe jetzt viel im Rampenlicht bei Veranstaltungen. Soll die Bevölkerung denken, dass ihre Bürgermeisterin keine Hoffnung hat? Das geht nicht!
Ihr Vater musste 1991 die Türkei verlassen. Sie sind als 19-Jährige nach Deutschland gezogen, um ihn wiederzusehen.
Mein Vater war politischer Anwalt und aktiv in der kurdischen Partei. Er musste seine Familie verlassen und nach Bremen fliehen. Erst 2014 konnte er für ein paar Monate zurückkommen. Vorher war das wegen des gegen ihn laufenden Gerichtsverfahrens nicht möglich. Seit 2016 traut er sich ebenfalls nicht mehr, in die Türkei einzureisen. Als ich zu ihm nach Bremen zog, war ich nicht glücklich. Das lag sicher auch am Fluchttrauma meines Vaters. Aber dann bin ich alleine nach Köln gegangen zum Studium – und das war eine richtig schöne Zeit.
Was mochten Sie in Köln besonders?
Die Demokratie, die offene Gesellschaft, die Freiheit. In Köln fühlt man sich als Frau in Sicherheit. Hier haben wir keine Sicherheit für Frauen auf den Straßen, in den Parks, im Taxi oder im Bus. Für mich persönlich war das eine sehr wichtige Zeit als freie Frau in Köln. Ich habe mich in Deutschland mehr mit der kurdischen Frage beschäftigt. Politische Familien in diesem Land so wie meine haben ausnahmslos traumatische Geschichten: Gefängnis, Flucht oder Ermordung. Köln war mein eigenes Leben.
Wer oder was könnte Ihnen helfen?
Ich habe keine große Hoffnung mehr, dass Europa oder Deutschland Druck auf die Türkei ausüben. Dabei wäre es wichtig, dass jemand Erdogan sagt, dass er einen demokratischen Weg finden muss. Wir erwarten von demokratischen Staaten im Westen mehr als den Satz: Wir sind besorgt. Das ist unter uns schon zum Scherz geworden, zu sagen: Wir sind besorgt. Besorgt sein bringt gar nichts. Die Türkei muss mit Sanktionen rechnen, sonst wird nichts passieren.