Die estnische Ministerpräsidentin mahnt: „Russland bereitet sich auf einen langen Krieg gegen die Ukraine vor.“ Die EU brauche auch einen Plan.
Kaja KallasVier Fallen der russischen Kriegspolitik – EU darf keine Schwäche zeigen
Russland bereitet sich auf einen langen Krieg gegen die Ukraine vor. An einen schnellen Sieg ist nicht zu denken, also müssen wir einen Plan für einen langen Kampf haben. Unsichere Zeiten bergen viele Fallen.
Es gibt die Falle der Hoffnung: Die falsche Erwartung einer schnellen Lösung. Es ist nur allzu menschlich, dass wir uns ein schnelles Ende dieses Krieges wünschen. Wenn mir Fragen zur Gegenoffensive der Ukraine gestellt werden, erinnere ich stets daran, dass diese schon seit dem 24. Februar 2022 andauert.
Es gibt auch die Hoffnung auf Verhandlungen. Das ist die Hoffnung, dass unser Hinnehmen eines erfolgreichen Landraubs im 21. Jahrhundert Russlands Appetit stillen würde. Der Wunsch zu verhandeln kommt von denjenigen, die die Beziehungen zu Russland um jeden Preis stabilisieren wollen.
Dann gibt es die Falle der Angst: Die Drohungen der russischen Führung und die Bilder von Atomexplosionen im russischen Staatsfernsehen sollen die freie Welt und unsere Bevölkerung verängstigen. Indem die russische Führung Ängste schürt, will sie die Wahrnehmung des Krieges in der transatlantischen Gemeinschaft verändern.
Hosentaschen, Handys und Apps: Tiefe der Desinformation
Das führt uns in die Falle der Selbstabschreckung, verursacht durch die Angst vor Eskalation. Aus dieser Angst heraus argumentieren einige, dass die Unterstützung der Ukraine bei der Verteidigung gegen eine Aggression eine Eskalation bedeutet. Meine Antwort darauf: Verteidigung ist keine Provokation. Widerstand provoziert Russland nicht – Schwäche schon.
Schließlich gibt es noch die Falle der Desinformation. Es gibt auf der einen Seite den konventionellen Krieg gegen die Ukraine. Auf der anderen Seite gibt es den Schattenkrieg des Kremls, in dem Desinformation und Datenkrieg eine weitere wichtige Front darstellen. Die Desinformationskampagne des Kremls erreicht über soziale Medien ein enormes Publikum – sie sitzt buchstäblich in unseren Hosentaschen, Handys und Apps.
Russlands Kampagne zielt darauf ab, demokratische Entscheidungsträger und Gesellschaften von der Unterstützung der Ukraine abzuhalten, innenpolitische Spaltungen zu provozieren und demokratische Abstimmungen zu beeinflussen – einschließlich der Entscheidungen, die wir in unseren Wahllokalen treffen.
Seit der Invasion hat sich die Zahl der Abonnenten für vom Kreml unterstützte Accounts auf Telegram mehr als verdreifacht, auf TikTok mehr als verdoppelt und auf YouTube um fast 90 Prozent erhöht, während Facebook das größte Publikum für kremlnahe Konten hat.
Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Bots und Trolle daran hindern können, Desinformationen zu verbreiten. Online-Plattformen haben hier eine besondere Verantwortung. Zu diesem Zweck hat die Europäische Union den Digital Services Act verabschiedet. Danach sind Meta, X und TikTok verpflichtet, illegale und schädliche Online-Aktivitäten und die Verbreitung von Desinformationen zu verhindern. Es gibt jedoch auch andere Plattformen, etwa Telegram, die erhöhte Aufmerksamkeit erfordern.
Im Kern ist dies ein Kampf des Willens. In diesem Kampf sollten wir nicht unsere eigene Stärke fürchten. Die neueste Falle der russischen Desinformation besteht darin, uns glauben zu lassen, dass die Unterstützung der Ukraine eine aussichtslose Sache ist, dass wir als erste ermüden. Wir können das Gegenteil beweisen!
Kaja Kallas ist Ministerpräsidentin von Estland. Die 46-Jährige ist auch Vorsitzende der liberalen Estnischen Reformpartei. Zuvor war sie Mitglied des EU-Parlaments.