Interview

Drosten über Corona
„Es hätten weniger Menschen sterben müssen“

Lesezeit 8 Minuten
Virologe Christian Drosten (l) und Journalist Georg Mascolo.

Virologe Christian Drosten (l) und Journalist Georg Mascolo haben ein Buch über den Umgang mit Corona geschrieben.

In ihrem Buch „Alles überstanden?“ hinterfragen Christian Drosten und Georg Mascolo die Corona-Maßnahmen und fordern eine detaillierte Aufarbeitung.

Die Debatte über eine Aufarbeitung der Corona-Zeit nimmt auch in Deutschland an Fahrt auf. Wer an die Pandemie denkt, landet schnell beim Namen Christian Drosten. Im Gespräch mit dem RND zieht der Virologe nun mit dem Journalisten Georg Mascolo eine Bilanz. Die beiden haben ein Buch herausgebracht - mit einem „überfälligen Gespräch zu einer Pandemie, die nicht die letzte gewesen sein wird“ (Ullstein, 270 Seiten).

Herr Drosten, die Pandemie wurde im Frühjahr 2023 für beendet erklärt. Sie könnten wieder in Ruhe forschen. Stattdessen bringen Sie mit Georg Mascolo ein Buch mit dem Titel „Alles überstanden?“ heraus. Ist noch nicht alles gesagt?

Christian Drosten: Ich bin natürlich auch ein Mensch und nicht nur Wissenschaftler. Und ich sehe, was in der Gesellschaft momentan passiert. Da kommen jetzt Populisten und sagen: Die Corona-Einschränkungen, das war doch alles Unsinn. Das ärgert mich. Da wird den vielen Menschen, die sich in der Pandemie eingeschränkt haben, um andere zu schützen, suggeriert, dass sie etwas Unnötiges oder Falsches gemacht hätten. Das ist hinterhältig. Es ist wichtig, noch mal klarzustellen, was wirklich war.

Georg Mascolo: Diese Pandemie hat zu einigen der schwersten und weitreichendsten politischen Entscheidungen in diesem Land seit Ende des Zweiten Weltkrieges geführt. Jetzt müssen wir uns fragen: Was war eigentlich richtig, was war falsch? Was lässt sich daraus lernen fürs nächste Mal? Eine solche Rückschau hat in Deutschland bislang aber nicht stattgefunden. Das empfinden wir beide als Fehler.

Jetzt müssen wir uns fragen: Was war eigentlich richtig, was war falsch? Was lässt sich daraus lernen fürs nächste Mal?
Georg Mascolo

Rund 174.400 Menschen sind bis Juni 2023 in Verbindung mit Covid-19 gestorben. Hat Deutschland rückblickend die richtigen Entscheidungen getroffen, wenn man Opferzahlen international vergleicht?

Christian Drosten: Wir stehen in Deutschland gut da, verglichen mit anderen großen europäischen Industrieländern, die ähnlich strukturiert sind. Das liegt vor allem an den konsequenten Maßnahmen in der ersten Welle im Frühjahr 2020. Damals wurde die schnelle deutsche Reaktion international bewundert. Leider hat die Politik in Deutschland vor der zweiten Welle, im Winter 2020/21, nicht noch die paar Monate durchgehalten, bis die Impfung verfügbar war. Dadurch sind viele Menschen gestorben, die nicht hätten sterben müssen. Später hatten wir Probleme mit der Annahme der Impfung. Das hätte besser laufen können.

Wir alle sollten die Szenen zu Beginn der Pandemie aus anderen Ländern erinnern. Als Eishallen in Leichenkühlhäuser umgewandelt wurden.
Christian Drosten

Kann die Wissenschaft heute klar benennen, welche Maßnahmen effektiv waren – und welche nicht?

Christian Drosten: Ja. Das Effektivste waren die Gruppenobergrenzen, also „Versammlungsverbote“. Effizient waren Schulschließungen und Arbeitsplatzmaßnahmen wie Homeofficepflicht. Auch die Maßnahmen im laufenden Schulbetrieb – also eine Kombination aus Maske tragen, testen und die Klassenräume anders strukturieren – haben etwas gebracht, allerdings weniger. Maßnahmen in der Gastronomie hatten eindeutig eine Wirkung, aber weniger deutlich. Durch Studien schlecht belegt ist, dass Hygienekonzepte wie häufiges Lüften und Händewaschen wirksam waren. Was aber nicht heißt, dass das nicht wirksam war. Manchmal waren einfach die Studien nicht zielgerecht angelegt.

Die Kritiker der Lockdowns führen die Spätfolgen mancher Maßnahmen an: seelische Erkrankungen, häusliche Gewalt, schulischer Abfall, wirtschaftliche Not.

Christian Drosten: Ich verstehe die Kritik. Den Nutzen der Maßnahmen sieht man nicht, die Katastrophe wurde ja verhindert. Wir können aber sicher sein, die Maßnahmen waren notwendig. Wir alle sollten die Szenen zu Beginn der Pandemie aus anderen Ländern erinnern. Als Eishallen in Leichenkühlhäuser umgewandelt wurden. Das war in Madrid, nicht irgendwo ganz weit weg.

Trotzdem sagen nun fast alle Politiker, dass es ein Fehler war, die Schulen flächendeckend zu schließen. Hätte es in der Zeit vor den Impfungen Alternativen dazu gegeben?

Christian Drosten: Schulschließungen waren wirksam, aber andere Maßnahmen auch. Das war jeweils eine Frage der politischen Gewichtung. Praktisch alle europäischen Industrieländer haben die Schulen geschlossen, die Zeit der vollständigen Schließungen unterschied sich laut OECD etwa um plus/minus drei Wochen. Wir lagen ungefähr im Mittelfeld. Manche Länder haben stärker bei den Arbeitsplätzen eingegriffen und bindende Homeofficeregeln gehabt.

Georg Mascolo: Dahinter steckt ja die große Frage, die wir uns im Nachgang stellen müssen: Waren die Lasten in dieser Pandemie einigermaßen gerecht verteilt? Um die Wirtschaft haben wir in Deutschland jedenfalls vergleichsweise lange einen Bogen gemacht. Unsere Homeofficepflicht kam ziemlich spät.

Im Ernstfall muss die Politik sofort Kompromisse schließen können.
Christian Drosten

Heute herrscht der Eindruck, dass es die Virologen waren, die zu Schulschließungen aufgerufen haben. Wie groß war Ihr Einfluss auf solche Entscheidungen?

Georg Mascolo: Wenn wir mal nur auf den März 2020 schauen, also den ersten Lockdown, gibt es da höchst unterschiedliche Schilderungen. Das geht nicht entlang irgendwelcher parteipolitischen Linien, sondern es sind einfach verschiedene Erinnerungen, wer da was gehört haben will. Man würde sich wünschen, dass es noch mehr der damals Beteiligten gäbe, die heute sagen würden: Gut, dann kram ich mal tief in meinem Gedächtnis. Leider wurde in diesen Runden nicht mal ein anständiges Protokoll geführt.

Christian Drosten: Wir waren damals drei Berater in der ersten Ministerpräsidentenkonferenz: Lothar Wieler, Heyo Krömer, der Chef der Charité, und ich. Und wir haben uns explizit nicht für flächendeckende Schulschließungen ausgesprochen. Wir hatten in Deutschland ganz früh die Testung, wir konnten unsere Ausbrüche genau lokalisieren. Ich riet daher nur zu örtlich und zeitlich beschränkten Schulschließungen nach Ausbruchlage. So steht es auch im Beschlusspapier der Konferenz. Dass dann ein Bundesland nach dem anderen am nächsten Tag doch die Schulen geschlossen hat, das ist reine Politik gewesen.

Man kann sich schon fragen, wieso die Politik diesen Expertenrat nicht schon früher ins Leben gerufen hat.
Georg Mascolo

Was bräuchte es, damit solche Entscheidungen in einer nächsten Pandemie transparenter, koordinierter ablaufen?

Christian Drosten: Vorbereitung, ganz klar. Im Ernstfall muss die Politik sofort Kompromisse schließen können. Es wäre gut, man hätte vorab schon eine grobe Güterabwägung festgelegt zwischen Schulen, Arbeitsplätzen, Gastronomie ... Dass am Ende nicht nur zählt, wer den Wunsch lauter äußert, nicht so stark in die Pflicht genommen zu werden.

Georg Mascolo: In allen Planspielen, die es vorab jemals zum Umgang mit einer Pandemie gegeben hat, findet man an keiner Stelle das Wort Ministerpräsidentenkonferenz. Am Anfang konnte man noch Verständnis dafür haben, dass wir da so reingestolpert sind. Aber dann blieb es so, es kam lange zu keinen Veränderungen im Krisenmanagement. Das sollte sich nicht wiederholen. Und künftig braucht es eine gebündelte wissenschaftliche Beratung, die ihre Einschätzungen schriftlich abgibt.

In Ihrem Buch sprechen Sie davon, dass Sie sich in der Winterwelle 2020 wohl zu stark aus der Öffentlichkeit zurückgezogen haben.

Christian Drosten: Das stimmt. Das ist der eine kommunikative Fehler, den ich gemacht habe. Ich habe mich zurückgezogen, weil ich gemerkt habe, dass es plötzlich zu politisch wurde. Da kamen Stellungnahmen aus der Medizinwelt, die sagten, diese Maßnahmen, die sollen doch lieber auf freiwilliger Basis erfolgen. Das war aber zu einer Zeit, als ganz klar war, dass es eine schwere Winterwelle geben wird.

Sie meinen da ein Papier der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, das vor zu harten Lockdowns warnte. Der KBV-Chef Andreas Gassen sprach von einem „Überbietungswettbewerb im Erlassen von Maßnahmen“.

Christian Drosten: Ja, mit solchen Slogans wurde da hantiert. „Gebote statt Verbote“ und so weiter. Das sind aber keine wissenschaftlichen Aussagen, sondern politische Forderungen. Zu dem Zeitpunkt habe ich die Gelegenheit verstreichen lassen, mehr mit nüchternen, wissenschaftlichen Aussagen in der Öffentlichkeit gegenzuhalten. Mich zum Beispiel in Talkshows zu setzen, um gehört zu werden.

Georg Mascolo: Es gab keine ausreichende Klarheit mehr, was wissenschaftliche Mehrheits- und was Minderheitsmeinung war. Erst Ende 2021 wurde ein Expertenrat eingerichtet, im Übergang von Merkel auf Scholz. In einem schriftlichen und für alle nachvollziehbaren Protokoll wurde ab dann dargelegt: Wo ist man sich in der Fachwelt einig, wo ist man es nicht? Man kann sich schon fragen, wieso die Politik diesen Expertenrat nicht schon früher ins Leben gerufen hat. Und auch Medien tun gut daran, noch einmal auf sich selbst zu schauen. Zu oft gibt es die Versuchung, Unsicherheit in Lautstärke zu verwandeln. Wie also gehen wir künftig in der Berichterstattung mit langen Phasen der Ungewissheit um?

Dann lassen Sie uns nach vorn blicken. Forschende erwarten auf jeden Fall weitere Pandemien. Die Frage ist nur, wann und wo es losgeht – und mit welchem Erreger.

Christian Drosten: Stimmt. Ein Kandidat ist das Mers-Virus, zu dem auch ich forsche. Das ist im Mittleren Osten verbreitet. Es kommt in Kamelen vor, bei denen sich der Mensch fortwährend infiziert. Der andere Kandidat ist das Vogelgrippevirus H5N1, das vor kurzem in Milchviehbeständen in den USA entdeckt wurde und sogar schon in Milchprodukten im Handel aufgetaucht ist. So etwas hat es vorher noch nicht gegeben, solche extrem großen Ausbrüche bei Kühen – alle Fachleute sind besorgt. Man weiß nicht so recht, wie das jetzt weitergeht, weil man auch keine sehr gute Dateneinsicht hat.

Jetzt klingen Sie fast wie im Januar 2020, als Sie uns sagten: „Es ist zu früh für Warnungen, aber die Pandemiegefahr ist realistisch.“

Christian Drosten: Die Erfahrung lehrt eben: Wir bemerken zu spät, wenn sich ein Virus bereits verbreitet. Wie dafür jetzt die Wahrscheinlichkeiten bei H5N1 liegen, kann ich nicht sagen. Ich kann nur sagen, es kann glimpflich ablaufen, das Virus braucht mehrere Schritte zur Anpassung, und vielleicht ist es vorher schon unter Kontrolle. Aber es kann auch schon der Anlauf zu einer nächsten Pandemie sein, den wir hier live mitverfolgen.

Georg Mascolo: Wir wissen aber eines sicher: Aus Ausbrüchen müssen keine Pandemien werden. Das aber verlangt, dass frühzeitig Informationen geteilt werden – und dass gehandelt wird. Das ist die politische Verantwortung.

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