Ugur Aslan hat seine Frau und seinen ältesten Sohn beim Erdbeben in der Türkei verloren. Seinen jüngsten Sohn sucht er seitdem verzweifelt.
Ein Jahr nach dem ErdbebenWie ein Vater in der Türkei noch immer seinen Sohn sucht
Ugur Alsan hält sich an der Hoffnung fest, dass sein jüngster Sohn Furkan Alp entführt wurde. Das wäre immerhin besser, als wenn er tot wäre. „Manchmal sehe ich ihn in meinen Träumen“, sagt der Vater. „Ich sehe, wie er heranwächst, er ist dann vielleicht sechs oder sieben Jahre alt.“ Als sein Vater ihn vor einem Jahr zuletzt gesehen hat, ist Furkan dreieinhalb gewesen.
Es ist der Tag der Katastrophe, der 6. Februar: Ugur, seine Ehefrau und die vier Söhne schlafen in der südosttürkischen Stadt Adiyaman in ihrer Wohnung im dritten Stock, als um 4.17 Uhr die Erde bebt – und kurz danach die Welt um sie herum zusammenbricht.
„Wir sind beim Erdbeben aufgewacht, sofort ins Kinderzimmer gerannt und haben versucht, alle eng beisammen zu sein“, sagt Ugur Alsan (45). „Dann stürzte das Gebäude ein. Wir haben gedacht, dass wir sterben. Wir hatten kaum Platz zu atmen.“ Nachbarn und Verwandten gelingt es, die Verschütteten innerhalb von nur zwei Stunden aus den Trümmern zu befreien. Ugurs Ehefrau Süheyla und der älteste Sohn, der 15-jährige Melih Gazi, können nur noch tot geborgen werden.
Ugur Alsan kommt mit einem zertrümmerten rechten Bein in ein Krankenhaus in Adiyaman. Seine Söhne Ibrahim, damals sechs Jahre alt, und der zwölfjährige Emir Berat werden in ein Kinderkrankenhaus gebracht – ebenso wie der dreieinhalbjährige Furkan, letzteres wollen nach Angaben des Vaters jedenfalls Augenzeugen berichtet haben. Um 13.24 Uhr am selben Tag ereignet sich ein weiteres schweres Erdbeben, bei dem das Kinderkrankenhaus beschädigt wird. Die jungen Patientinnen und Patienten müssen verlegt werden.
„Bei dem Transport ist Furkat verschwunden“, glaubt Ugur Alsan. „Es ist, als habe er sich in Luft aufgelöst.“ Ugur Alsan hat Fotos von seinem Sohn auf dem Handy, eines davon zeigt einen fröhlichen Jungen, der einen blauen Spiderman-Pulli trägt. In Ugur Alsans Stimme schwingt Verzweiflung mit, wenn er von der Suche nach seinem jüngsten Sohn spricht.
Der Anwalt antwortet nicht mehr
Die Behörden hätten DNA-Proben von ihm, dem Vater, und von der verstorbenen Mutter genommen und diese mit denen von allen toten Kindern abgeglichen, sagt er – im Fall von Furkan ohne Ergebnis. „Wenn es keine Übereinstimmung mit einem der toten Kinder gab, muss er doch am Leben sein.“ Mit Hilfe von Verwandten habe er die Krankenhäuser, Waisenheime und Kindergärten in der Umgebung abgesucht. „Ich habe alle Fotos von den Kindern durchgeschaut, die beim Erdbeben gestorben sind.“
Ugur Alsan räumt ein, dass sein Sohn im Chaos um das Beben ums Leben gekommen sein könnte – er gehe aber von einer Entführung aus. Auch die Polizei habe nach Furkan gesucht, sagt er. „Als sie ihn nicht gefunden haben, haben sie behauptet, er sei nicht aus dem eingestürzten Haus geborgen worden. Mein Nachbar hat aber gesagt, dass er gerettet wurde. Und es gibt Zeugen, die ihn im ersten Krankenhaus gesehen haben. Ich will daran glauben, dass die Polizei ihn noch sucht.“
Die Familie Alsan lebt in einer Containerstadt für Überlebende des Bebens, in den beengten Verhältnissen muss sie wohl noch mehrere Jahre lang ausharren. Sie hat keinen Einfluss und erst recht kein Geld, für die Suche nach Furkan hat der Vater dennoch einen Anwalt beauftragt. Der Jurist reagiere leider auf seine Anrufe nicht mehr, sagt Ugur Alsan. Auch Anrufe und Nachrichten des RND bleiben unbeantwortet.
Der Vater will dennoch nicht verzagen. „Auch nach einem Jahr habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, ihn wiederzufinden.“ Wie er dieses Martyrium bewältige? „Es ist sehr schwierig“, antwortet er. „Das kann man nicht bewältigen.“
Die AKP-Regierung weiß nichts von vermissten Kindern
Furkans Fall ist nicht der einzige seiner Art. Der Verein für Solidarität mit Erdbebenopfern und Angehörigen von Vermissten (Demak), der sich im Juni gegründet hat, geht davon aus, dass das Schicksal von 157 Menschen unbekannt ist, darunter das von 38 Kindern. Demak fordert eine Untersuchung durch das Parlament in Ankara. Die Regierungskoalition aus der islamisch-konservativen AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan und der rechten MHP lehnt das ab. AKP-Familienministerin Mahinur Özdemir Göktas hat kürzlich gesagt, nicht ein einziges Kind werde vermisst – anderslautende Behauptungen seien mutwillige Desinformation, mit der der Staat diskreditiert werden solle.
Das Erdbeben vor einem Jahr ist die schwerste Naturkatastrophe in der jüngeren Geschichte der Türkei gewesen. Nach offiziellen Angaben hat es allein in diesem Land mehr als 50.000 Menschen das Leben gekostet, im benachbarten Syrien sind es weitere rund 8500 Tote gewesen. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Die Provinz Adiyaman gehört zu den am schwersten betroffenen Gegenden in der Türkei. Auch die gleichnamige Provinzhauptstadt ist immer noch gezeichnet von der Katastrophe.
Zwischen beschädigten Apartmentblöcken, die leer stehen, liegen Brachen, auf denen Bagger Trümmer eingestürzter Gebäude zerkleinern und wegschaufeln. Im Stadtzentrum erstreckt sich ein Trümmerfeld über ein größeres Grundstück, hier hat das Grand Isias Hotel gestanden. 72 Menschen sind hier gestorben, darunter 24 Kinder aus Nordzypern, die für ein Volleyballturnier in die Türkei gereist waren.
Erster Prozess wegen Missachtung der Bauvorschriften
Im vergangenen Monat hat deswegen der erste große Prozess in der Türkei wegen der Erdbebentoten begonnen. Elf Angeklagten wird Fahrlässigkeit beim Bau des Hotels vorgeworfen. In der Anklageschrift heißt es, das Gebäude sei illegal von einem Wohnhaus in ein Hotel umgewandelt worden. Ohne Genehmigung sei auf die neun bewilligten Stockwerke ein weiteres gesetzt worden. Die hohe Opferzahl bei dem Erdbeben wird auch darauf zurückgeführt, dass Bauunternehmer in der Türkei immer wieder lokale Behörden schmieren, um Sicherheitsvorkehrungen unterlaufen und so Geld sparen zu können.
Knapp 150.000 Häuser sind in der Provinz Adiyaman offiziellen Angaben zufolge bei dem Beben beschädigt worden, das entspricht etwa zwei von drei Gebäuden. Der Wiederaufbau im Katastrophengebiet schreitet viel langsamer voran, als die Regierung in Aussicht gestellt hat. Präsident Erdogan hat 319.000 neue Häuser binnen eines Jahres versprochen, die offiziellen Zahlen lassen keinen Zweifel daran, dass dieses Ziel weit verfehlt wird. Obwohl es nach dem Beben heftige Kritik an Erdogans Regierung gab, ist er bei der Präsidentenwahl im Mai für weitere fünf Jahre als Staats- und Regierungschef bestätigt worden.
Mangel an Ärzten und Zunahme von Erkrankungen
Der Allgemeinmediziner Erdogan Altunbas von der Ärztekammer in Adiyaman wäre eigentlich längst nach Deutschland übergesiedelt, wenn er nach dem Beben nicht so dringend in seiner Heimatstadt gebraucht würde. Seitdem würden Ärzte in der Stadt eine Zunahme an Infektionskrankheiten registrieren, weil Menschen auf zu engem Raum zusammenlebten, sagt der 45-Jährige. Durch die unsachgemäße Entsorgung von Schutt werde Asbest freigesetzt, was zu Atemwegsproblemen führe. Es fehle an Zugang zu Trinkwasser. Suizide und psychische Krankheiten nähmen zu, zugleich gebe es einen Mangel an Fachärzten.
Unzufriedenheit mit der politischen und der wirtschaftlichen Lage hat für Altunbas zur Entscheidung geführt, mit seiner Ehefrau und den beiden Kindern nach Deutschland auswandern zu wollen – wie so viele andere türkische Ärzte auch. Darunter sind sein Schwager und dessen Ehefrau, die beiden Mediziner praktizieren bereits im hessischen Darmstadt. „Wir haben wirklich gedacht, dass es bei der letzten Wahl einen Wechsel geben würde“, sagt Altunbas. „Aber das war eine große Enttäuschung.“
Adiyaman sei auch nach dem Beben eine Hochburg von Erdogans AKP geblieben. „Wenn die Toten wählen könnten, würden so gar sie die AKP wählen.“ Dabei sei die staatliche Hilfe unmittelbar nach dem Beben viel zu langsam angelaufen, kritisiert der Arzt. Die AKP habe erste Wohnungen für Erdbebenopfer für Ende Oktober versprochen, bis heute sei keine einzige übergeben worden. „Ich lache, wenn ich höre, wie sie behaupten, dass sie einen tollen Job gemacht haben.“
Unterbringung in Containerstadt: 20 Quadratmeter für fünf Personen
In der Provinz Adiyaman gibt es ein Jahr nach dem Erdbeben mehr als 50 Containerstädte, die meisten davon in der Hauptstadt. Die Container haben eine Wohnfläche von etwa 20 Quadratmetern, die Alsans drängen sich dort zu fünft: Vater Ugur, eine seiner Schwestern, seine Mutter und die beiden Söhne, die überlebt haben und bei ihm sind.
Hunderte Container stehen in Reih und Glied in dem umzäunten Areal am nordwestlichen Rand von Adiyaman-Stadt. Zwischen den Behausungen liegt Kies, das ist schlecht für Ugur, der wegen seiner Beinverletzung bis vor kurzem noch einen Rollstuhl gebraucht hat. Seine Mutter Serife Alsan (64) sagt, sie habe ihrem Sohn während dieser Zeit Teppiche über die spitzen Steine bis zum nächsten asphaltierten Weg in rund 20 Metern Entfernung ausgelegt, über die er dann auf allen Vieren zu seinem Rollstuhl gekrochen sei.
Immer noch braucht Ugur Aslan Krücken, wegen seiner Verletzung kann er nicht arbeiten. Sein Arbeitgeber zahlt dem Elektriker dennoch den Mindestlohn von 17.000 Lira, umgerechnet etwas mehr als 500 Euro. Für eine Mietwohnung reiche das Geld der Familie niemals, sagt Serife Alsan – Mieten für Wohnungen in unbeschädigten Gebäuden sind seit dem Beben explodiert.
Der Container der Familie besteht aus einer kleinen Wohnküche, in der ein Sofa steht, auf dem die Mutter nachts schläft. Vor dem Herd, der Spüle und der Waschmaschine wird abends eine Matratze ausgerollt, dort übernachtet ihre Tochter. Ugur Aslan und dessen beiden Söhne teilen sich das Stockbett im Schlafraum. Das spärliche Eigentum der Familie ist in Regalen und Kisten untergebracht. Neben der Tür steht ein Katzenklo, die Familie hat die Katze Duman (Rauch) adoptiert. „Das Tier tut den Kindern gut“, sagt Ugur Alsan.
„Im Container ist nicht genug Platz für fünf Menschen“, beklagt Serife Alsan. „Die Kinder haben keinen Platz, um Hausaufgaben zu machen.“ Ihr Antrag auf einen zweiten Container sei von den Behörden abgelehnt worden. „Den bekommen nur reiche Menschen.“ Wie es weitergehe, wisse sie nicht. „Es ist eine wirklich schwierige Situation“, sagt die 64-Jährige. „Die Regierung hat uns garantiert, dass wir fünf Jahre im Container bleiben können. Aber hier kann man nicht fünf Jahre lang leben.“