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Kommentar

Gesetzgeber muss reagieren
Für Social-Media-Plattformen ist die Lüge ein Geschäftsmodell

Ein Kommentar von
Lesezeit 4 Minuten
25.08.2022, Berlin: Auf dem Bildschirm eines Smartphones sind die Logos der Apps VKontakte (oben l-r), Twitter, RT News, Facebook, Instagram (unten l-r), Telegram und TikTok zu sehen. 



Die App TikTok gehört zu der chinesischen Firma ByteDance. (zu dpa: «Wusstest du, dass ...? - TikTok kommt aus China») Foto: Fernando Gutierrez-Juarez/dpa-Zentralbild/dpa - Honorarfrei nur für Bezieher des Dienstes dpa-Nachrichten für Kinder +++ dpa-Nachrichten für Kinder +++

Auf dem Bildschirm eines Smartphones sind die Logos verschiedener Apps zu sehen.

In der Schlammlawine der Lügen ist die Wahrheit kaum noch zu entdecken. Es wird Zeit, dass wir etwas unternehmen, schreibt Kolumnist Heino Falcke.

„Du willst doch wohl nicht meine wunderbare Hypothese, mit deinen hässlichen Fakten schlachten?“ So ähnlich paraphrasierte ein Forscherkollege mal den englischen Biologen Thomas Henry Huxley.

Die Aussage war ironisch gemeint, denn alle Forscher, die durch die harte Schule der Wissenschaft gegangen sind, haben diese Erfahrung am eigenen Leib gemacht: Man hat eine wunderbare Idee, wie ein kleiner Teil der Welt vielleicht funktionieren könnte, und mit einem erwartungsvollen Lächeln analysiert man seine Daten, um die Theorie zu überprüfen. Die Daten lächeln freundlich zurück und sagen: Nein! Wieder ist eine wunderschöne Theorie auf der Schlachtbank des Experiments gestorben, oft noch bevor sie das Licht der Weltöffentlichkeit erreicht hat. Fakten können grausam sein.

Dann beginnt das verzweifelte Suchen nach Fehlern, und tatsächlich können auch in Experimenten Fehler passieren und Daten falsch sein. Tatsächlich ist das Forscherleben voller frustrierender Erfahrungen des Scheiterns und der Fehlersuche. Es braucht viel Erfahrung und Geduld, um mit Daten umzugehen.

Wie viel einfacher ist es doch, wenn man sich seine eigenen Fakten schaffen und die Welt so träumen kann, wie man will. Genau diesen Weg beschreiten die großen Internetplattformen, die in großem Maße unseren politischen Diskurs, unsere Weltsicht und die Gedankenwelt vieler unserer Kinder und Jugendlichen beeinflussen. Sie schaffen jetzt einfach die Faktenchecker ab. Grausame Fakten, die die eigene Meinung zerstören könnten, will man den Kunden nicht zumuten. Ja, Fakten seien Zensur, heißt es sogar.

Experten, die die Fakten beurteilen und einordnen, brauchen wir nicht mehr. Die Schwarmintelligenz der vielen soll es jetzt richten. Ein interessanter Gedanke! Vielleicht sollten wir den auch in der Wissenschaft einführen. Statt teurer Experimente fragen wir einfach die Schwarmintelligenz der Mehrheit, ob die Relativitätstheorie von Albert Einstein stimmt. Tatsächlich bekomme ich immer wieder entrüstete Briefe meist älterer Herrschaften, die mir ausschweifend erklären, warum diese vom Mainstream völlig überschätzte Theorie ja nicht stimmen könne. Es sind Briefe voller fantasiereicher Gedanken, aber ohne irgendeinen greifbaren Versuch der Überprüfung mit echten Daten. Mache Briefe sind lieb und nett, andere geradezu unverschämt.

Ich wage einmal die These: Wenn wir den Bau unseres Satellitennavigationssystems, welches tatsächlich die Relativitätstheorie nötig hat, der Schwarmintelligenz solcher Leute überließen, würden unsere Autos reihenweise in Sackgassen landen oder im Rhein enden. Wer Daten ignoriert, fährt irgendwann in die Irre.

Zumindest in der Grundlagenforschung gilt daher der Verstoß gegen das biblische achte Gebot noch als Kardinalsünde, und die ist mit Konsequenzen verbunden. Wer falsches Zeugnis gibt, wer lügt und dabei erwischt wird, muss Publikationen zurückziehen, verliert die eigene Glaubwürdigkeit und manchmal auch den Job.

Für Social-Media-Plattformen hingegen ist die Lüge ein Geschäftsmodell. Zwar waschen die Betreiber ihre Hände in Unschuld. Aber es sind gerade ihre Algorithmen, die darüber bestimmen, welche „Wahrheiten“ Menschen zu sehen bekommen. Gerade die Lüge und die Manipulation wecken Emotionen, und sie werden mir immer wieder gerne angeboten, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. In der Schlammlawine der Lügen ist die Wahrheit dann kaum noch zu entdecken.

Grafik: AFP

Grafik: AFP

Es wird Zeit, dass wir etwas unternehmen gegen diese schleichende Vergiftung unserer Hirne und den Verlust grundlegender Anstandsregeln. Ich erwarte, dass endlich klare Regeln vom Gesetzgeber kommen, die das Handeln dieser Plattform in Bande legen, und ich erwarte von der europäischen Medienlandschaft, dass sie endlich brauchbare Alternativen entwickelt, damit wir uns aus der Abhängigkeit ausländischer Medienkonzerne lösen können.

Denn es handelt sich hier gerade nicht um einen gleichberechtigten gesellschaftlichen Diskurs unter dem Schutz unseres Grundgesetzes. Die Entscheider hinter all diesen Plattformen sitzen weit weg im Silicon Valley oder in China und haben die Konsequenzen ihres Handelns hier in Deutschland oder Europa nicht am eigenen Leib zu tragen. Im Gegenteil, sie zündeln aus der Ferne an unserer Gesellschaft und verdienen sich an deren Naivität eine goldene Nase.

Das bedeutet nicht, dass man Plattformen verbieten soll. Das Internet ist dafür inzwischen zu wichtig. Aber es braucht klare Regeln, die uns als Bürgerinnen und Bürger vor diesen Kraken schützen.

Plattformen müssen die Verantwortung für alle ihre Inhalte übernehmen, genau wie andere Medien auch. Echte Meinungsfreiheit bedeutet aber auch, dass das Monopol dieser Plattformen aufgebrochen werden muss. Sie entwickeln sich immer mehr zu sektiererischen Gemeinschaften, aus denen man nicht mehr herauskommt, weil man dort ja alle seine digitalen Kontakte und Freunde hat.

Es braucht daher offene Systeme. So wie ich von einem Medium zu einem anderen wechseln oder mit meinem Handy von einem Mobilfunkanbieter zum anderen umziehen kann, ohne dass ich alle meine Sozialkontakte verliere, muss ich auch von einer Social-Media-Plattform zu anderen wechseln können. Kleinere, unabhängige Plattformen machen bereits entsprechende Angebote. Erst dann haben wir wirklich einen freien Markt und echte Meinungsvielfalt. Dann kann ich auch selbst mitbestimmen, welcher Algorithmus meinen Kopf vollspült.

Diese Freiheit habe ich zur Zeit nicht. Jetzt bin ich in der digitalen Welt auf Gedeih und Verderb von der Wahrheit irgendwelcher schräger Milliardäre abhängig. Dafür ist mir die Wahrheit einfach zu kostbar.