Zum Weltlehrertag ein Appell an alle Eltern: Haltet eure Kinder von Smartphones und Konsolen fern!
Gastbeitrag zu Kindern und DigitalisierungDie modernen Zeitdiebe heißen Smartphone und Gaming-Konsole

Grundschülerinnen und -schüler einer 2. Klasse im Unterricht
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Im vergangenen Jahr gab es eine Nachricht, die nachhaltig verstören müsste: Die Schulleistungen von Grundschülern haben seit 2011 stark nachgelassen. Jeder vierte Viertklässler kann nicht richtig lesen, so der Befund der internationalen IGLU-Studie. Viertklässler!
An dieser Lage hat sich seither nichts verändert. Sie ist und bleibt schlichtweg katastrophal. Klar, einiges geht auf das Konto von Corona, einiges hapert bei Integration und Inklusion. Aber es gibt noch etwas anderes, über das man kaum spricht. Tatsächlich fällt der schulische Rückfall von Viertklässlern auffällig zusammen mit dem Siegeszug des Digitalen in Freizeit und Kommunikation.
Zum diesjährigen Weltlehrertag ist deshalb vor allem ein Appell wichtig: Liebe Eltern, bitte helft den Lehrern!

Michael Felten
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Nein, nicht beim Erklären oder Üben - das ist Pädagogen-Job. Aber die Mütter und Väter könnten mithelfen, dass Schülerinnen und Schüler sich überhaupt einigermaßen konzentrieren können, aufs Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Immer mehr Kinder verbringen nämlich immer mehr Zeit mit digitalen Geräten, von Spielkonsolen bis hin zu Smartphone und Co. Dabei sind sie zwar schön ruhiggestellt, verlernen es aber, komplexere fremdbestimmte Aneignungsprozesse durchzustehen. Und natürlich leiden auch Bewegung, Sprachentwicklung und motorische Reifung. Dies zeigte schon 2017 die BLIKK-Studie, eine empirische Querschnittsanalyse mit 5573 einbezogenen Kindern und Jugendlichen aus 79 Kinder- und Jugendarztpraxen.
Und dann ist da noch etwas. Unter der digitalen Ägide verkümmert auch das, was man fürsorgliche Aufmerksamkeit der Erwachsenen nennt. Eine systematische Untersuchung an der IPU Berlin hat es kürzlich belegt: Wenn Eltern portable digitale Geräte nutzen, reagieren sie weniger feinfühlig und responsiv auf ihre Kinder. Dieser Beziehungsmangel infolge elterlichen Abgelenktseins führt tatsächlich zu sogenannten Selbstregulationsstörungen der Kinder: Auch sie lassen sich leichter ablenken, können externe Anforderungen schlechter bewältigen.
Kindern fehlt, was der Verhaltensforscher Michael Tomasello ‚geteilte Aufmerksamkeit‘ nennt.
Das ist übertrieben? Stellen wir uns doch einmal kurz vor, wie einer der kürzlich getesteten Viertklässler aufgewachsen sein mag. Er oder sie wurde um 2011 geboren, die jungen Eltern könnten durchaus schon ein Smartphone besessen haben. Dann war die Mutter vielleicht bereits beim Stillen mit Whatsapp-Nachrichten beschäftigt, anstatt mit Blickkontakten und Erzählen. Wenn Papa mit dem Jogger-Buggy unterwegs war, fehlte dem Baby die Mimik des Vaters, es bekam nur flüchtige Eindrücke von der Welt mit. Schon bald könnten die jungen Eltern ihrem Sohn oder ihrer Tochter ein digitales Spielgerät in die Hand gedrückt haben, „damit sich das Kind später besser zurecht findet in einer Welt voller IT“. Spätestens mit zwei ging’s dann ab in die Kita. Aber auch dort wurde zu wenig gesprochen, waren die Kontakte mangels Personal oft oberflächlich.
Bei den gemeinsamen Mahlzeiten am Abend oder auf Wochenendausflügen wird das Kind immer öfter erlebt haben, dass seine Bezugspersonen irgendwie absorbiert waren. Ständig hatten sie was zu googeln, etwas zu posten, irgendwem Echo zu geben. Dem Kind fehlte in solchen Situationen das, was Verhaltensforscher wie Michael Tomasello „geteilte Aufmerksamkeit“ nennen – und was für eine gesunde Entwicklung als existenziell gilt.
Eltern müssen heute ein bisschen Momo sein
Der digitale Raum bietet wunderbare Werkzeuge für Verschiedenstes, ist aber für die Entwicklungsjahre eine äußerst heikle Sphäre. Und zwar weit über die Irritationen durch Sex und Crime hinaus, welche die niedersächsische Digitalbotschafterin Silke Müller kürzlich in ihrem Bestseller „Wir verlieren unsere Kinder“ eindrucksvoll beschrieb. Es ist wie in Michael Endes Geschichte von Momo, in der ein unerschrockenes Mädchen mit den Grauen Herren kämpft – Wesen, die den Menschen ihre Zeit stehlen und sie damit abhängig machen.
Die heutigen Zeitdiebe heißen Smartphone und Gaming Konsole. Eltern müssen heute also ein bisschen Momo sein: dafür sorgen, dass unsere Kinder nicht hilflos dem digitalen Dauerfeuer ausgeliefert sind; dass sie noch genug Zeit für analoges Lernen haben, bei dem alle Sinne angesprochen werden. Viele Erwachsene scheuen sich allerdings einzugreifen, wollen nicht altmodisch sein, es sich nicht mit ihren Kindern verderben.
Aber da muss man durch. Und man kann die 3-6-9-12-Faustregel des französischen Psychologen Tisseron anwenden und weitersagen: Kein Fernsehen unter drei Jahren, keine eigene Spielkonsole vor dem sechsten Geburtstag, Internet mit neun und soziale Netzwerke erst ab zwölf. In den USA plädieren Elternverbände mittlerweile gar für „Wait until eighth!“ - Wartet mit Smartphones bis zur 8. Klasse! Das hört sich für manche unmöglich, für andere unmenschlich an – aber es täte unseren Kindern gut. Sogar ältere Internatsschüler waren letztlich dankbar, als man ihnen den Gebrauch des Smartphones auf dem Campus verbot – weil sie dann mehr miteinander machten.
Zum Schluss dann doch noch ein Wort auch an die Lehrer. Auch sie sollten das Digitale nicht überschätzen. Ein digital gestützter Anfangsunterricht birgt erhebliche Risiken, so der jüngste Faktencheck der Mercator-Stiftung. Deshalb tritt ein Vorzeigeland wie Schweden in Sachen Digitalisierung neuerdings merklich auf die Bremse. Könnte nicht auch bei uns der nächste Elternabend den Punkt „Digitalrisiken“ behandeln, ob nun in Klasse 1 oder Klasse 6?
Zur Person
Michael Felten arbeitet nach langem Lehrerleben als freier Schulentwicklungsberater in Köln. Im Verlag Reclam erschien 2020 sein Buch „Unterricht ist Beziehungssache“.