Thilo Sarrazin war einst der Vordenker des „Das wird man wohl noch sagen dürfen“ und des Rechtsrucks in Deutschland. Ein Porträt.
Begegnung mit Ex-SPD-PolitikerGefühlte Wahrheiten – zu Besuch bei Thilo Sarrazin
An jenem Sonntag, als in Thüringen zum ersten Mal seit Kriegsende die Rechtsradikalen eine Wahl gewannen, schaltete Thilo Sarrazin um Punkt 18 Uhr die Ergebnisprognosen an, fühlte sich wie immer in allem bestätigt, schaltete den Fernseher wieder aus und ging weiter der Frage nach, warum die amerikanischen Hinterwäldler alle Donald Trump wählen.
„Ich habe mir ein gutes Buch bestellt, J. D. Vance, Hillbilly Elegy“, erzählt Sarrazin ein paar Tage später in der Sitzecke des kleinen Gartens an seinem Wohnhaus. „Das ist sehr interessant, im Vorfeld der amerikanischen Wahlen. Und es passt auch ganz gut.“
J.D. Vance stammt aus einer Hillbilly-, also Hinterwäldlerfamilie, hat mit einem Buch über die erschreckenden Zustände in seiner Heimat einen Bestseller gelandet, warnte danach vor Trump als „Amerikas Hitler“ und ist inzwischen trotzdem sein Vize-Kandidat.
Thilo Sarrazin: Warnung vor „kulturfremder Massenzuwanderung“
Thilo Sarrazin war 47 Jahre lang in der SPD, warnte 2010 im meistverkauften deutschen Sachbuch der Nachkriegsgeschichte vor dem Niedergang seiner Heimat durch „kulturfremde Massenzuwanderung“ und flog später aus seiner Partei.
Für sein Opus Magnum hatte der Volkswirt alle erdenklichen Statistiken zu Einwanderung, Intelligenz und Genetik so zusammengeklaubt und, wie echte Wissenschaftler zeigten, zurechtgebogen, dass sie seine These stützten: „Deutschland schafft sich ab“.
Ganze Bücher widerlegten Sarrazins Annahmen, denn weder wird Intelligenz so simpel vererbt wie die Haarfarbe, noch ist der durchschnittliche Muslim dümmer als der durchschnittliche Germane. Doch allein, dass da endlich mal einer, noch dazu ein Sozialdemokrat, die islamische Einwanderung als Problem anprangerte; dass er sich wünschte, die Moslems bekämen weniger Kinder, brach ein Tabu. In bürgerlichen Kreisen sprach man so bis dahin nur hinter vorgehaltener Hand. Thilo Sarrazin wurde, unter massiver Kritik, zum Pionier des „Das wird man ja noch sagen dürfen!“
Für seine Fans ist Sarrazin bis heute „inhaltlich nicht widerlegt“. Im Felde ungeschlagen. Für die anderen war es Sarrazin, der den Geist aus der Flasche ließ, der zu Spaltung und Enthemmung führte. Und so zum Aufstieg der AfD.
Doch anders als J. D. Vance schlug Sarrazin den Anwerbeversuch der AfD-Gründer aus. Was wäre wohl aus ihm geworden? Was aus der AfD? Und wie blickt er auf die Partei, die in den Bundestag einzog und zur stärksten Kraft in halb Ostdeutschland wurde, indem sie seine Thesen zum Programm machte?
Thilo Sarrazin empfängt Journalisten bei sich zu Hause
Es ist September in Berlin, 14 Jahre nachdem „Deutschland schafft sich ab“ wochenlang die Republik erregte, und Thilo Sarrazin hat ein neues Buch veröffentlicht. Zufällig fällt es mitten in die hitzigste Asyldebatte seit Jahren. „Deutschland auf der schiefen Bahn“. So heißt der neue Sarrazin. Er klingt wie der alte. Um dafür zu werben, empfängt der Autor sogar Journalisten zum Hausbesuch.
Der Weg in den Garten führt durch Flur und Wohnzimmer. Es ist keine Luxusvilla, sondern noch immer das Einfamilienhaus im bürgerlichen Berliner Westen, in das Sarrazin vor 25 Jahren als Staatsbeamter mit Frau und Kindern zog, lange bevor ihn 1,6 Millionen verkaufte Skandalbücher zum Millionär machten.
Seine gesammelten Werke stehen im Bücherregal zwischen vielen Politikerbiografien und noch mehr deutscher Geschichte. Preußen. Hitler. Wirtschaftswunder. Die Einrichtung kommt ohne dunkle Eiche aus, erinnert mit ihrer hellen Siebzigerjahremöblierung eher an den Kanzlerbungalow unter Helmut Schmidt. Der steht auch im Regal. Er hatte Sarrazin stets verteidigt.
Thilo Sarrazin sitzt mit hellblauem Kurzarmhemd und akkurat gestutztem Schnurrbart auf seiner Terrasse, hinter ihm summt der Mähroboter über den perfekt getrimmten Rasen, drinnen kocht seine Frau Kaffee für die Gäste. Draußen sind gerade zwei Kisten mit den frischen Autorenexemplaren angeliefert worden, es ist sein neuntes Sachbuch über den Untergang der Republik.
Finanziell hat er das ja nicht mehr nötig, warum also die vielen Bücher? „Ich habe festgestellt, dass sich mir beim Schreiben die Gedanken klären“, antwortet Sarrazin mit ungerührtem Blick und in seinem monotonen Sprachgalopp, der wegen seiner alten Gesichtsnerv-Verletzung ab und an stolpert, ohne dass es die gedrechselten Monologe bremsen würde. „Und natürlich freut man sich immer über soziale Rückmeldung, also, wenn ein Text gut ankommt.“
Der Verdacht lag nahe: Sarrazin durchdringt seine Themen erst beim Schreiben, getrieben von der Aussicht aufs große Hallo nach Erscheinen. So hat er sich Genetik, Europarecht, Mediensystem und Islam erschlossen. Nur eins war stets vorab klar: So kann es nicht weitergehen! „Klar“, sagt Sarrazin blinzelnd, „wenn man als Autor nicht das Gefühl hätte, dass man bestimmte Dinge besser weiß, sollte man kein Buch schreiben.“
Am 9. November vor 35 Jahren, als in Berlin die Mauer fiel und sich Ost- und Westdeutsche in den Armen lagen, da schaltete in Rheinland-Pfalz ein 17 Jahre alter Björn Höcke mit seinem Vater den Fernseher ein und weinte ebenfalls. Allerdings nicht vor Freude, so will es AfD-Co-Gründer Konrad Adam später von ihm erfahren haben, vielmehr habe Höckes Vater geschluchzt: „Das ist das Ende des deutschen Volkes.“ Nun werde Multikulti auch jenen bislang unberührt deutschen Staat im Osten erobern.
Damals war die Zeit noch nicht reif, um mit solchen Gedanken Erfolge zu feiern. Aber als Höcke nach Thüringen ging, um Politiker zu werden, hatte Sarrazin schon seinen Geist aus der Flasche gelassen. „Ich möchte“, schrieb Sarrazin 2010 etwa, „dass meine Nachfahren auch in 100 Jahren noch in einem Deutschland leben, in dem die Verkehrssprache Deutsch ist und die Menschen sich als Deutsche fühlen“. Das sei ihm „wichtiger als die Frage, ob der Wasserspiegel der Nordsee in den nächsten 100 Jahren um 10 oder 20 Zentimeter steigt“.
Drei Jahre später gründete Höcke in Thüringen die AfD mit und machte sie zur Partei, die die Ängste um das Deutsche im Land erst schürt und dann ausbeutet, während sie reale Bedrohungen verhöhnt.
Es waren 14 wilde Jahre seit Sarrazins Durchbruch mit dem Trick, als seriöser Zahlenmann - immerhin war er zuvor Berliner Finanzsenator und Bundesbankvorstand - in staubtrockenem Ton zu erläutern, dass Türken und Araber Deutschlands Unglück seien. Seitdem durchschüttelten Flüchtlings-, Corona- und Ukraine-Krise das Land; syrische Ärzte wurden bejubelt, ein deutschtürkisches Ehepaar erfand den Covid-Impfstoff, ein Migrantenkind wurde Kapitän der Nationalmannschaft.
Er trifft wieder einen Nerv
Zurzeit aber debattiert Deutschland über syrische Messerstecher, über den bewussten Bruch von EU-Recht zwecks Migrantenzurückweisung, in Thüringen wäre Höcke fast Ministerpräsident geworden - und Sarrazin hat wieder Konjunktur. Er trifft wieder einen Nerv.
Ein paar Tage vor dem Hausbesuch ist der Autor Sarrazin zu Gast im Haus der Bundespressekonferenz. Als er hier vor 14 Jahren „Deutschland schafft sich ab“ vorstellte, herrschte Tumult: Demonstranten für und gegen ihn, Kamerateams und Fotografen drängelten.
Heute läuft es ruhiger ab. Es gibt Filterkaffee und Erdbeerkuchen, die Vertreter - ohne „innen“ - konservativer und rechter Medien sind in der Überzahl. „Wie ein Familientreffen hier“, grinst einer. Ein anderer fragt Sarrazin später, ob sich viele Menschen bei ihm entschuldigt hätten: „Sie haben mit Ihrem Buch ja mit allem Recht gehabt.“ Nein, antwortet Sarrazin, keine Entschuldigungen: „Angela Merkel wird niemals ihre Meinung über mich ändern“, sagt er. „Aber ich ändere ja auch nicht meine Meinung über sie.“
Was das Rechthaben angeht, sagt er: „Teilweise ist es sogar schlimmer gekommen als von mir prognostiziert.“ Umso empörender findet er, dass es keine Vorabdrucke, Talkshoweinladungen und Aufregung mehr gibt: „Wer sich nur aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk informiert, muss davon ausgehen, dass ich bereits gestorben bin“, klagt er.
„Für den Aufstieg der AfD ist Angela Merkel verantwortlich“
Auch die Frage, ob er der AfD den Weg bereitet hat, verneint er: „Für den Aufstieg der AfD ist Angela Merkel verantwortlich.“ Er sieht keinen Zusammenhang zu ihm. Vielleicht erkennt er deshalb nicht, dass die Rechtspopulisten längst seine alte Rolle übernommen haben, „unbequeme Wahrheiten“ und „gesunden Menschenverstand“ zu reklamieren - dabei aber viel schriller sind.
Er doziert, dass man die Fehler der Vergangenheit nicht ungeschehen machen könne. Wie die „Gastarbeiterpolitik“, die „Deutschland kulturell und ethnisch in einer Weise verändert hat, die von Politik und Gesellschaft nie so gebilligt worden wäre“. Das erinnert zwar an Höckes Mauerfalltränen, aber als Sarrazin zur AfD befragt wird, betont er, „wie schrecklich der Bernd Höcke ist“. Er sagt wirklich Bernd.
Auf die Solinger Morde angesprochen, spult er wieder Zahlen ab: 13,5 Prozent der Mörder und Gewalttäter seien Ausländer. „Wenn man nicht nur die Staatsangehörigkeit zählt, sondern auch den Migrationshintergrund, dann sogar über 60 Prozent.“ Oha. „Leider gibt es keine amtliche Statistik dazu.“ Wie bitte? „Aber ich habe eher nach unten als nach oben geschätzt.“ Ach so. Geschätzt.
Die Frage, ob man nicht mit guter Integrations- und Bildungspolitik auch Einwanderkinder zu erfolgreichen Deutschen machen könnte, stellt niemand. Es ist die falsche Frage hier.
In den USA hat sie der Politologe Charles Murray schon vor 30 Jahren in Sarrazins Sinn beantwortet. Mit „The Bell Curve“ schrieb er die Vorlage für Sarrazin: Er plädierte für die Abschaffung jeglicher Sozialhilfe, weil durch sie die falschen noch mehr Kinder bekämen. Bildung sei Verschwendung, weil sie bei Schwarzen schon genetisch nicht fruchte. Sarrazin zitierte Murray mehrfach als Quelle, obwohl der Amerikaner längst der Statistikfälschung überführt war. Und Murray beruft sich auch auf J. P. Rushton, dessen Rassentheorie vom „afrikanischen Ausbreitungstypen“ Björn Höcke einst verwendete, um die Bedrohung Europas zu beschwören.
Beliebige Belege für gefühlte Wahrheiten
Auch Murray landete Bestseller. „Warum?“, hatte er sein Werk vorher bei Verlegern angepriesen: „Weil viele wohlmeinende Weiße fürchten, heimliche Rassisten zu sein - und mein Buch sagt ihnen, dass sie das nicht sind.“ Er liefere ihnen Beweise für das, was sie schon immer dachten, aber nie zu sagen wagten. Beliebige Belege für gefühlte Wahrheiten. Es ist auch das Erfolgsrezept des Thilo Sarrazin.
In dessen Garten weht jetzt Kinderlärm, der Gastgeber will gerade den Niedergang des Bildungssystems beweisen, indem er seine altsprachlichen Kenntnisse mit denen seines Vaters vergleicht: „Er konnte weitaus besser Griechisch und Latein als ich!“ Aber: „Als meine Söhne ein humanistisches Gymnasium besuchten, stellte ich fest, dass das Niveau meiner Lateinkenntnisse dem ihren weit überlegen war.“ Es ist unklar, wie das dazu passt, dass die biodeutsche Elite mehr Kinder kriegen müsse als die minderbemittelten Zuwanderer. Klar ist nur: Es geht abwärts mit Deutschland. Es ist am Ende mit seinem Latein.