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Gewerkschafts-Chefin Fahimi„Es gibt keinen Anlass sich über Streiks aufzuregen“

Lesezeit 7 Minuten
Ein Mitarbeiter einer Berliner Süßwarenfirma steht bei einem Warnstreik vor der Niederlassung von Bahlsen. Er hält ein Schild hoch mit der Aufschrift: „Hupen für mehr Geld!“

Juni 2023: Ein Mitarbeiter einer Berliner Süßwarenfirma steht bei einem Warnstreik vor der Niederlassung von Bahlsen.

Deutschlands oberster Gewerkschafterin Yasmin Fahimi verteidigt die härtere Gangart in den Tarifverhandlungen. Sie rechnet mit neuen Streiks.

Man kann die frische Farbe noch riechen, und auch die Bilder haben noch nicht sämtlich ihren Platz gefunden. Erst vor wenigen Tagen ist der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sein neues Hauptquartier in Berlin Schöneberg gezogen. Aus angemieteten Räumen am Hackeschen Markt in Berlin-Mitte ging es für 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einen schicken Neubau in der Schöneberger City West.

Der DGB zieht damit zurück zu seinen Wurzeln, das neue Gebäude steht an exakt jenem Platz, an dem sich schon seit 1964 das Berliner Domizil des Gewerkschaftsbundes befunden hatte. Auch Gewerkschaftschefin Yasmin Fahimi muss sich ein wenig orientieren, noch sind nicht alle Wege eingeübt. Bremsen aber lässt sie sich von dem Umzugschaos keineswegs, und wenn doch, merkt man es ihr nicht an. Die 55-Jährige empfängt die Redakteure in ihrer Etage unterm Dach des Büroturms und gibt sich kämpferisch wie eh und je.

Frau Fahimi, Tarifverhandlungen werden immer härter. Wo haben die Gewerkschaften ihren neuen Mut her?

Yasmin Fahimi: Wir machen wie immer unseren Job, das ist nicht neu. Neu sind die hohe Inflation und die drastisch steigenden Lebenskosten. Das wirft existenzielle Fragen auf und setzt viele Menschen unter Druck. Umso wichtiger sind deutlich höhere Löhne, und die müssen hart erkämpft werden.

DGB-Chefin Yasmin Fahimi (links) mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, Mitte).

DGB-Chefin Yasmin Fahimi (links) mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, Mitte).

Gleichzeitig gibt es einen fundamentalen Wandel vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt – die Macht liegt mehr und mehr bei den Beschäftigten. Steigt dadurch die Gefahr, dass die Gewerkschaften überziehen?

Nein, für uns ist eine realistische und gerechte Tarifpolitik, die auch die jeweiligen wirtschaftlichen Bedingungen in den unterschiedlichen Branchen und Betrieben berücksichtigt, selbstverständlich.

Das sehen die Arbeitgeber anders.

Für die Arbeitgeber ist jeder Tarifabschluss zu hoch. Außerdem wollen sie Löhne am liebsten nach eigenem Gutdünken bestimmen, also Nasenprämie statt tariflichem Rechtsanspruch. Das ist das Hauptproblem. Denn die Tarifflucht der Arbeitgeber verhindert einen verlässlichen Rechtsrahmen und kalkulierbare Bedingungen – für beide Seiten, in guten wie in schlechten Zeiten. In Deutschland haben wir den größten prekären Arbeitsmarkt Westeuropas – wie in der Gastronomie und anderen Branchen mit desaströser Tarifbindung.

Fahimi: „Löhne nur ein kleinerer Kostenfaktor“

Trotzdem befürchten die Betriebe wegen der hohen Abschlüsse Lohnkostendruck.

Das sind doch olle Kamellen! Die hohen Preise haben doch erwiesenermaßen andere Ursachen, etwa den Energiepreisschock nach dem Angriff auf die Ukraine. Verglichen mit Rohstoff- und Energiekosten sind die Löhne für die meisten Betriebe tatsächlich nur ein kleinerer Kostenfaktor. Und in Branchen, in denen das anders ist, gibt es ja Tarifverträge, die das angemessen berücksichtigen.

Muss sich die Gesellschaft auf mehr Streiks einstellen?

Das haben am Ende die Arbeitgeber in der Hand. Wie eine Tarifrunde abläuft, ist immer auch abhängig von ihren Angeboten. Ein Streik ist ja nie Selbstzweck, sondern das notwendige letzte Mittel, um berechtigte Interessen durchzusetzen. Im Übrigen gehört Deutschland zu den Industrieländern mit den wenigsten Streiktagen im Jahr. Es gibt keinen Anlass sich darüber aufzuregen. Was mich aufregt, sind sinkende Reallöhne von Millionen Beschäftigten, die nicht unter den Schutz von Tarifverträgen fallen. Das ist dramatisch und ein sozialpolitischer Skandal. Die Gesellschaft droht noch weiter in Arm und Reich auseinander zu fallen. Darüber wird kaum geredet, leider auch nicht in den Haushaltsverhandlungen der Bundesregierung.

Was fehlt Ihnen da?

Wie in Teilen der Koalition derzeit über den Haushalt debattiert wird, macht mir große Sorgen. Wichtige Versprechen der Ampel für den sozialen Fortschritt drohen unter den Tisch zu fallen. Mag sein, dass der Bund sparen muss, aber dadurch sind Probleme wie das Bildungsdesaster ja nicht weg oder gar gelöst. In Deutschland kann jedes vierte Kind am Ende seiner Grundschulzeit nicht richtig lesen. Da fehlt es an allen Ecken und Enden, genauso wie an der Uni und in der beruflichen Weiterbildung.

Fahimi: „Wir lassen Kinder ungebremst in eine Bildungskatastrophe laufen“

Sie wissen, dass Bildung Ländersache ist.

Ja, aber es gibt eine Verabredung der Koalitionspartner über ein Startchancenprogramm für 4000 Schulen. Wo ist das in der Haushaltsplanung geblieben? Tausende Schulleitungen sind unbesetzt. Warum machen wir die nicht attraktiver? Und was ist mit flächendeckenden Leseförderprogrammen und flankierender Schulsozialarbeit? Es kann doch nicht wahr sein, dass wir ständig über den Fachkräftemangel jammern und dann unsere Kinder ungebremst in eine solche Bildungskatastrophe laufen lassen.

Gilt das auch für die Kindergrundsicherung?

Aber ja. Die Kindergrundsicherung muss kommen! 7,8 Millionen Menschen in Deutschland gelten als arm, viele davon sind minderjährig. Kinder vor den Langzeitschäden von Armut zu schützen, muss eine Hauptaufgabe sein. Und deshalb erwarte ich, dass die Reform der Kindergrundsicherung eine große Sozialreform wird – und nicht nur eine spröde Verwaltungsreform. Das Leistungsniveau der neuen Kindergrundsicherung muss deutlich oberhalb des Regelsatzes für Kinder beim Bürgergeld liegen, sonst wird das Ziel schlicht verfehlt.

Fahimi: „Die Koalition muss sich fragen, was aus dem Versprechen von sozialem Fortschritt geworden ist“

Finanzminister Christian Linder sagt, es sei kein Geld dafür da.

Dass ein FDP-Minister eine solch wichtige Sozialreform mit haushaltspolitischen Argumenten auf die lange Bank schieben will, ist empörend, überrascht mich aber nicht. Die Koalition insgesamt muss sich aber fragen, was aus ihrem Versprechen von sozialem Fortschritt geworden ist. Ausgerechnet bei armen und armutsgefährdeten Kindern zu sparen, ist nicht nur ungerecht, sondern auch kurzsichtig und deshalb gesellschaftspolitisch dumm. Wir müssen in Deutschland die Voraussetzungen verbessern, damit alle jungen Menschen gut in Ausbildung und Arbeit finden, sonst wird das am Ende auch für die öffentlichen Kassen deutlich teurer.

Der Finanzminister sucht noch 20 Milliarden Euro. Wo soll er das Geld hernehmen?

Ich glaube, dass die Finanzierungslücke sogar noch deutlich größer ist, wenn die Regierung ihre sozialpolitischen Versprechen umsetzen will. Aber schon durch eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer und durch die Abschaffung der Sonderregeln für superreiche Unternehmenserben könnte man den Haushalt sanieren. Wenn man denn will.

Auch vom Klimageld ist inzwischen keine Rede mehr. Bedauern sie das?

Die CO2-Bepreisung wird ab dem nächsten Jahr wieder voll zuschlagen und vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen belasten. Die Koalition hat versprochen, mit einem sozialen Klimageld dafür einen Ausgleich zu schaffen. Das muss unbedingt mit der nächsten Anhebung des CO2-Preises am 1. Januar kommen. Die Bundesregierung sollte sich besser beeilen.

Was, wenn das nicht gelingt?

Solange es kein Klimageld gibt, muss die Erhöhung des CO2-Preises ausgesetzt werden.

Fahimi: „Während andere handeln, diskutieren wir über Ordnungspolitik“

Die Energiepreise sinken inzwischen wieder. Ist das Schlimmste für Unternehmen und Beschäftigte überstanden?

Das ist schwer zu sagen, weil die Volatilität auf den weltweiten Energiemärkten groß ist. Ich freue mich natürlich, wenn die Preise nachgeben, aber ich weiß auch, dass das Preisniveau immer noch hoch ist. Die Bundesregierung täte gut daran, wenn sie jetzt die Preisbremsen für Strom und Gas verlängern würde. Das wäre ein wichtiges Signal und die Botschaft „Im kommenden Frühjahr droht kein erneuter Preisschock“ würde viele Menschen beruhigen.

Was ist mit den Unternehmen?

Da ist die Lage komplexer, denn viele mussten schon vor der Krise mit Energiepreisen arbeiten, die im internationalen Vergleich nicht wettbewerbsfähig sind. In den USA zahlen Unternehmen zum Teil Strompreise von gerade einmal zwei Cent je Kilowattstunde. Frankreich hat den größten Energieversorger des Landes verstaatlicht, dessen Schulden in den Haushalt transferiert und den Industriestrompreis auf gut 4 Cent je Kilowattstunde gedeckelt. Während andere handeln, diskutieren wir über Ordnungspolitik und darüber, was beihilferechtlich möglich ist. Das ist für mich absolut unverständlich.

Deutschland sollte den Preis auch deckeln?

Während wir hier reden, legen Unternehmen Investitionspläne für deutsche Standorte auf Eis oder verlagern Produktion ins Ausland. Der wettbewerbsfähige Industriestrompreis muss kommen. Kommt er nicht, müssen wir über eine klimaneutrale Wirtschaft gar nicht mehr reden. Die entsteht dann durch Abwanderung von Arbeit und Wohlstand von ganz allein, aber nicht erfolgreich.

In der Ampel gibt es darüber wie eigentlich über alle Energiefragen keine Einigkeit. Welche Rolle spielt der Dauerzwist für den aktuellen Umfragehöhenflug der AfD?

Die Koalition hat in den vergangenen Wochen ein wirklich schlechtes Bild abgegeben. Wenn sich die Regierungsparteien bei jeder Entscheidung in die Haare kriegen, entsteht das Gefühl politischer Instabilität – und davon profitiert die AfD. Ich hoffe sehr, dass die Bundesregierung sich jetzt zusammenreißt und alle Fraktionen begreifen, dass im Gegeneinander am Ende niemand gewinnt. Wenn das wie zuletzt weitergehen sollte, dann ist die Gefahr real, dass bei der Europawahl im kommenden Jahr die Extremisten zulegen und das demokratische Spektrum verliert. Eine solche, politisch zerstörerische Entwicklung zu verhindern, ist die Pflicht aller demokratischen Parteien.