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„Du bist kein Mensch“Nach NRW geflüchtete Iranerin berichtet von schwerster Folter im Gefängnis

Lesezeit 7 Minuten
Porträt von zehn Frauen aus dem Iran, die zu insgesamt 90 Jahren Haft verurteilt wurden.

Zehn Baha´i-Frauen wurden im Iran zu 90 Jahren Haft verurteilt. Eine von ihnen kam mit humanitärem Visum nach Deutschland. Ihre Geschichte ist erschütternd.

Azadeh gehört zur Minderheit der Baha´i. Mit neun anderen Frauen wurde sie jüngst zu insgesamt 90 Jahren Haft verurteilt. Ein Gespräch über das Grauen systematischer Diskriminierung.

Sicher fühlt sich die Frau, die für diese Geschichte Azadeh heißt, nach sieben Monaten in Deutschland nicht. Sie hat Angst, wenn es an der Tür klingelt. Wenn jemand brüllt. Wenn sie auf einem städtischen Platz sieht, wie Menschen mit der Polizei in Konflikt kommen. Sie wisse, dass sie in Sicherheit sei, sagt sie. „Aber ich habe mich noch nicht wieder gefunden. Es war alles zu viel.“

Bild einer Wohnung, die durchsucht wurde. Alles wurde durchwühlt.

Die Wohnung von Azadeh wurde durchsucht, viele Wertgegenstände konfiszierten die Revolutionsgarden.

In der iranischen Millionenstadt Isfahan ist Azadeh eine bekannte Frau. Sie gehört zur verfolgten Minderheit der Baha´i und war im Visier der Geheimdienste. Azadeh hatte eine Online-Schule gegründet und sich um ethnische Minderheiten gekümmert. Nach dem Mord an der damals 22-jährigen Mahsa Jina Amini und dem Beginn der Frauen-Leben-Freiheit-Bewegung im September 2022 trug sie kein Kopftuch mehr. Im Gefängnis folterte man sie brutal. Nach islamischem Recht wurden sie und neun andere Baha´i-Frauen zu insgesamt 90 Jahren Haft verurteilt. Azadeh ist bislang die Einzige von ihnen, die ausreisen konnte. Mit einem humanitären Visum ist sie nach Deutschland gekommen – sie lebt mit ihrem Mann, der ebenfalls als Baha´i verfolgt wurde, in einer Stadt in Nordrhein-Westfalen.

Wir dürfen noch nicht einmal unsere Toten ordentlich begraben
Azadeh

Wo Azadeh sich aufhält, will sie nicht sagen, ihren Namen lieber auch nicht, obwohl Bilder und Namen der Verurteilten auf iranischen Medienseiten kursieren. „Ich möchte meine Geschichte erzählen, um den anderen verfolgten Frauen im Iran zu helfen und daran zu erinnern, dass die Baha´i nicht als Menschen gelten“, sagt sie. „Wir dürfen noch nicht einmal unsere Toten ordentlich begraben.“ Was sie erzählt über systematische Entrechtung, Diffamierung und Enteignung, erinnert an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte.

Azadeh bietet Ingwer-Tee und Blätterteiggebäck an. Sie sitzt auf einem Ikea-Stuhl in einer aufgeräumten Souterrainwohnung, eine Bekannte übersetzt, der Blick geht in einen gepflegten Garten. Obwohl sie schon gut Deutsch versteht und sehr gut Englisch spricht, ist es ihr lieber, auf Farsi zu erzählen. Was sie zu sagen hat, ist ihr zu wichtig. Es wiegt zu schwer. Sie spricht ruhig und konzentriert.

Verfolgung der Baha´i: Azadeh wurde im Iran mehrfach inhaftiert

Mit 14, sagt sie, sei sie für einen Monat von der Schule ausgeschlossen worden. Ein Mullah habe sie als ungläubig beschimpft, „eine Koranlehrerin sagte mir, ich sei kein Mensch“. So oft habe sie seitdem diesen Satz gehört: „Du bist kein Mensch.“ Zur Universität durfte sie nach der Schule nicht. „Ungeeigneter Fall“ stand in einem Schreiben der Behörden zur Begründung. Mit 17 sei sie zum ersten Mal inhaftiert worden, für sechs Tage, mit 22 zum zweiten Mal.

Wegen Propaganda und Gefährdung der islamischen Republik sei sie nach der zweiten Inhaftierung zu zwei Jahren und vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden. „Ich nehme an, weil uns Bildung sehr wichtig ist und das Regime jede Art von freier Bildung verhindern will“, sagt Azadeh. „Aber bestimmt auch, weil die Baha´i für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen einstehen.“

Sie berichtet, dass ihr Vater keine Genehmigung für den Betrieb einer Werkstatt erhalten habe, Baha´i-Freunde und Bekannte enteignet worden seien, regelmäßig Geschäfte von Baha´i verplombt und Vermögen konfisziert werden. „Seit der islamischen Revolution 1979“, sagt Azadeh, „haben wir eigentlich gar keine Rechte mehr.“

Die Baha´i werden im Iran nicht als religiöse Minderheit anerkannt

Die Baha´i sind die größte religiöse Minderheit im Iran. Anders als Christen oder Juden werden sie vom islamischen Regime nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt. Sie gelten als unrein und unwürdig. Das liegt an ihren Prinzipien, die den Vorstellungen der Scharia widersprechen: So glauben die Baha´i, dass Religion ohne Wissenschaft zu Aberglauben und Fanatismus führe. Sie treten für eine Gesellschaft mit weiblichen Leitbildern ein, für Gleichberechtigung der Geschlechter und der Religionen. Seit Beginn der Frauen-Leben-Freiheit-Bewegung im Herbst 2022 wächst die Solidarität gegenüber den Baha´i vor allem unter den jungen und liberalen Menschen im Iran.

„Verfolgt werden die Baha´i, die vor mehr als 170 Jahren aus dem Islam hervorgegangen sind, bereits seit ihrer Gründung“, sagt die Kölner Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur. „Die Baha´i wurden auch deswegen als Gefahr wahrgenommen, weil sie von Beginn an für soziale Reformen und Frauenrechte einstanden.“ Unter den 18 Aposteln befand sich eine junge Frau namens Tahirih. „Religionshistorisch war das revolutionär“, sagt Amirpur. „1848 erklärte ausgerechnet die unverschleiert auftretende Tahirih die Unabhängigkeit der neuen Baha´i-Religion vom Islam. Für viele Baha´i ist sie ein starkes Vorbild.“

Die erste bekannte Frau der iranischen Frauenbewegung soll im Sommer 1852 ermordet worden sein. „Sie können mich töten, sobald es ihnen beliebt, aber es wird ihnen nicht gelingen, die Emanzipation von Frauen aufzuhalten“, sind als letzte Worte Tahirihs überliefert.

Die Baha´i wurden auch deswegen als Gefahr wahrgenommen, weil sie von Beginn an für soziale Reformen und Frauenrechte einstanden
Katajun Amirpur, Islamwissenschaftlerin

Azadah sagt, sie sei in einer Gesellschaft, in der Frauen massiv unterdrückt werden, „im Geiste der Gleichberechtigung aufgewachsen“. Nach dem Tod von Mahsa Jina Amini habe sie ohne das im Iran für Frauen vorgeschriebene Kopftuch ein paar Mal mit ihrem Mann demonstriert und Protestgeschichten auf Instagram gepostet. Sie habe gewusst, dass das Regime sie im Visier hatte, aber nicht geahnt, was kam. „Mein Mann und ich haben geschlafen, als Sicherheitsleute am 23. Oktober 2023 unsere Wohnung gestürmt und mich verhaftet haben.“

Sie zeigt Bilder einer verwüsteten Wohnung. Vom Inventar sei nichts übrig geblieben: Die Revolutionsgarden hätten nicht nur Laptops und Festplatten, sondern auch Fotoalben, sogar Handcremes, Buntstifte und weißes Papier mitgenommen.

Schlagstöcke, Wasser, Androhung von Vergewaltigung und Mord

Was dann geschah und „sehr, sehr schwer war“, erzählt Azadeh sehr detailliert, für besonders sensible Seelen sind die Schilderungen schwer erträglich. Die Fahrt zum Gefängnis mit verbundenen Augen. Die Isolationshaft in einer Zelle so winzig wie der weiße Vorlegeteppich in ihrer deutschen Wohnung. Die Verhöre, immer von mehreren Männern, die hinter ihrem Rücken standen, an acht Tagen von 8 Uhr morgens bis 23 Uhr abends. „Ich habe ihren Atem gespürt.“ – „Sie haben mir Kugelschreiber in den Körper gebohrt.“ –„Mit dem Handy auf den Hinterkopf geschlagen.“ – „Sie sagten: Wir kippen dir gleich heißes Wasser über den Kopf – und haben mich in der nächsten Sekunde mit kaltem Wasser übergossen.“ – „Sie haben mir einen elektrischen Stuhl gezeigt und gesagt: Wir machen dich nass und setzen dich da drauf.“ – „Sie haben Schlagstöcke geholt und gedroht, mich damit zu vergewaltigen.“ – „Ich habe ständig die Schreie der anderen Frauen gehört, die gleichzeitig festgenommen worden waren und ganz in der Nähe verhört und gefoltert wurden.“ – „Sie sagten: Wir hängen dich an Drähten auf und schlagen dich so lange, bis du stirbst.“ – „Wenn du rauskommst, werden wir dich mit dem Auto überfahren, verlass dich drauf.“ – „Wir holen auch deine Familie.“

Azadeh zeigt keine Regung, während sie erzählt. Es ist ihr wichtig, nichts auszulassen. Was die Vernehmungsbeamten eigentlich wissen wollten, welche Art von Geständnis? „Sie haben mir vorgeworfen, dass meine Bildungsarbeit von Israel finanziert werde. Dass ich eine Spionin für Israel sei. Ich sollte sagen, von wem ich Geld bekomme.“ Das Weltzentrum der Baha´i befindet sich in der Stadt Haifa, die damals zum Osmanischen Reich und heute zur Israel gehört – auch deswegen wird den Baha´i immer wieder vorgeworfen, sie arbeiteten mit dem israelischen Staat zusammen.

Zu jeder Whatsapp und jeder Mail hätten die Peiniger sie befragt, sagt Azadeh. Ständig sei sie sexuell beleidigt worden, habe Angst gehabt, vergewaltigt zu werden. „Es war sehr entwürdigend.“

Die iranischen Behörden berauben die Baha´i in fast allen Lebensbereichen ihrer Grundrechte, und zwar allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft
Michael Page, Human Rights Watch

„Die iranischen Behörden berauben die Baha´i in fast allen Lebensbereichen ihrer Grundrechte, und zwar allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft“, schreibt Michael Page, stellvertretender Direktor für den Nahen Osten bei Human Rights Watch, in einem Bericht zur systematischen Diskriminierung der Baha´i. Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur sieht das genauso. Der internationale Druck auf den Iran, sagt Page, müsse dringend erhöht werden, „um diesem Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Ende zu setzen“.

35 Tage war Azadeh im Oktober und November 2023 in Haft. Nicht nur sie, auch einige der neun anderen beschuldigten Baha´i -Frauen sagten aus, bei den Verhören gefoltert worden zu sein. „Uns wurde gesagt, wir lügen – aber es war wichtig, dass wir es vor Gericht gesagt haben“, sagt Azadeh. „Die Lügner müssen die Wahrheit hören.“