GastbeitragCorona-Straftaten verstärken Überlastung von Ermittlern und Gerichten
- Sven Rebehn ist Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes. Zuvor arbeitete der 48-Jährige als leitender Redakteur bei der Neuen Osnabrücker Zeitung. Sein Gastbeitrag.
Die Strafjustiz arbeitet in Deutschland seit Jahren am Limit. Das machen die aktuellen Justizstatistiken einmal mehr deutlich. Die durchschnittliche Dauer erstinstanzlicher Strafverfahren bei den Landgerichten ist im Zehn-Jahres-Vergleich um fast zwei Monate auf einen neuen Höchstwert von acht Monaten gestiegen. Gerechnet ab Eingang bei der Staatsanwaltschaft dauerten die Verfahren 2019 sogar mehr als 20 Monate. In Nordrhein-Westfalen lag die Bearbeitungszeit der Landgerichte im vergangenen Jahr sogar noch einige Wochen über dem bundesweiten Durchschnitt.
Mehr und mehr zum Nadelöhr bei der Strafverfolgung entwickeln sich die Staatsanwaltschaften. Ein Hinweis auf deren starke Belastung ist, dass die Zahl der nach Ermessen eingestellten Verfahren im Zehn-Jahres-Vergleich erheblich zugenommen hat. Das betrifft Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft zwar einen hinreichenden Tatverdacht sieht, das Verfahren gegen den Beschuldigten aber zum Beispiel wegen Geringfügigkeit oder als unwesentliche Nebentat einstellt. Auch in der Corona-Pandemie ist die Staatsanwaltschaft bislang besonders gefordert – neben den Verwaltungsgerichten, die in diesem Jahr bereits über Tausende Eilanträge gegen Infektionsschutzmaßnahmen zu entscheiden hatten.
20.000 Fälle wegen erschlichener Soforthilfen
Die Strafverfolgungsbehörden waren seit Beginn der Corona-Krise bundesweit mit mehr als 20.000 Fällen wegen erschlichener Corona-Soforthilfen oder anderer Straftaten mit Pandemie-Bezug befasst. Das geht aus einer Umfrage der Deutschen Richterzeitung bei den Justizministerien und Staatsanwaltschaften der Länder hervor. Es dürfte bis weit ins nächste Jahr hinein dauern, ehe Staatsanwaltschaften und Gerichte alle Corona-Verfahren abgearbeitet haben. Nordrhein-Westfalen liegt bei den Strafverfahren mit Pandemie-Bezug bundesweit an der Spitze.
Mehr als 7500 Verfahren wegen Verdachts auf Subventionsbetrug und anderer Betrugsmaschen haben die Ermittler bisher verzeichnet. Das Landesinnenministerium bezifferte die Schadenssumme in den polizeilich registrierten Fällen von Subventionsbetrug im November vorläufig auf mehr als 30 Millionen Euro.
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Ein weiterer Befund lässt auf die Engpässe und hohe Belastung in der Strafjustiz schließen: Die Gerichte müssen immer wieder Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen, weil deren Verfahren zu lange gedauert haben. Mindestens 69 dieser Fälle haben die Landesjustizverwaltungen für das Jahr 2019 gemeldet, nachdem es im Jahr zuvor 65 und in 2017 noch 51 Fälle waren. Die Justiz in NRW lag in den vergangenen beiden Jahren mit jeweils sieben Haftentlassungen auf den vorderen Plätzen.
Insgesamt sind in den zurückliegenden fünf Jahren bundesweit mehr als 250 Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen worden, weil ihre Strafverfahren nicht schnell genug vorangetrieben werden konnten. Das ist kein beruhigender Befund. Auch das Bundesverfassungsgericht sah sich in diesem Zusammenhang mehrfach veranlasst, in seinen Entscheidungen an die Verantwortung der Länder für eine funktionsfähige Justiz zu erinnern.
Hohe Arbeitsbelastung in Strafjustiz auch vor Corona
Die hohe Arbeitsbelastung der Strafjustiz ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Strafverfahren immer aufwendiger werden. So haben sich die von den Ermittlern auszuwertenden Datenmengen in der digitalen Welt vervielfacht. Regelungsdichte und Detailtiefe der Gesetzgebung in Berlin und Brüssel nehmen gerade im Strafrecht seit Jahren zu. Das führt im Ergebnis dazu, dass die Stellenzuwächse der Jahre 2018 und 2019 in der Justiz noch zu wenig bewirkt haben. Die Aufgaben der Staatsanwaltschaften und Gerichte sind zuletzt im gleichen Umfang mitgewachsen.
Obendrein bringt die Bundesregierung aktuell weitere personalintensive Gesetzesvorhaben auf den Weg – etwa die Strafverschärfungen gegen Hass und Hetze im Netz, gegen Unternehmenskriminalität, gegen Geldwäsche sowie gegen Kindesmissbrauch und Kinderpornografie.
So ist absehbar, dass der Anfang 2019 geschlossene Rechtsstaatspakt von Bund und Ländern zur Stärkung der Justiz im nächsten Jahr nicht auslaufen darf und es eine Anschlussvereinbarung braucht. Dabei ist der Fokus auch auf die Digitalisierung der Justiz zu legen. Bei der Netzinfrastruktur, der IT-Ausstattung, der elektronischen Gerichtsakte und bei Online-Verhandlungen besteht in den Gerichten noch Nachholbedarf, wie die Corona-Pandemie offengelegt hat. Der Modernisierungsstau ist vielerorts ähnlich lang wie der an den Schulen, wo der Bund die Länder finanziell ebenfalls stark unterstützt.