Kassenärzte-Chef Andreas Gassen im Interview über die Verschwendung von Geld im Gesundheitswesen, über nötige Klinikschließungen und Datenschutzprobleme bei der elektronischen Patientenakte.
Kassenärzte-Chef Andreas Gassen„Wir müssen eine unkontrollierbare Insolvenzwelle von Krankenhäusern verhindern”
Herr Gassen, haben die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte zu wenig zu tun?
Wie kommen Sie denn darauf?
Sie fordern fortwährend, dass mehr Operationen und Behandlungen ambulant vorgenommen werden, also nicht mehr im Krankenhaus. Warum wollen Sie sich angesichts jetzt schon voller Wartezimmer noch mehr Arbeit aufhalsen?
Die sogenannte Ambulantisierung ist kein Selbstzweck oder ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Ärztinnen und Ärzte, die Däumchen drehen. Sie ist ein Gebot der Stunde, wird von der Wissenschaft einhellig empfohlen und weltweit umgesetzt. Nur in Deutschland nicht. Deshalb geht es zunächst einmal darum, einen Anteil von rund 20 Prozent der stationären Leistungen ambulant zu erbringen - wie im Rest der Welt. Für diese eigentlich ambulanten Prozeduren leisten wir uns immer noch teure stationäre Strukturen und verbrennen so viel Geld. Ein Beispiel: Eine Leistenbruch-Operation wird in Deutschland zu 96 Prozent stationär vorgenommen, wo sie ein Mehrfaches kostet. In Dänemark beträgt dieser Anteil nur rund 15 Prozent.
Warum ist die Quote in Deutschland so niedrig?
Derartige Operationen werden stationär höher vergütet als bei ambulanter Erbringung. Das muss sich dringend ändern, ansonsten wird sich hier nichts bewegen. Gesundheitsminister
Lauterbach will allerdings eher die Krankenhäuser unterstützen und sie stärker dafür öffnen, ambulant – also ohne Aufnahme über Nacht – tätig zu sein. Ein Fehler?
Natürlich sollen auch Krankenhäuser diese Aufgabe übernehmen können, wenn sie das Personal dafür haben. Aber hier habe ich meine Zweifel. Die Praxen übernehmen jährlich 650 Millionen Behandlungen, die Krankenhäuser 20 Millionen. Und schon diese vergleichsweise geringe Zahl an Fällen bringt das System an den Rand der Leistungsfähigkeit. Fatal wäre, wenn es Lauterbachs Ziel wäre, auf diese Art und Weise unwirtschaftliche Kliniken doch noch zu retten. Wir müssen uns endlich ehrlich machen.
Inwiefern?
Deutschland hat gar nicht mehr das Personal, die heute vorhandenen fast 2000 Kliniken komplett weiterzubetreiben. Selbst Unikliniken und Maximalversorger, die wir dringend brauchen und die früher keine Probleme mit der Besetzung von Stellen hatten, müssen inzwischen wegen Personalmangels ganze Stationen schließen. Die Krankenhausreform muss dazu führen, dass wir am Ende erkennbar weniger Kliniken haben, die dann aber personell und technisch gut ausgestattet sind.
Lauterbach streitet immer wieder ab, dass es bei der Reform um Klinikschließungen geht.
Es ist nicht zielführend so zu tun, als ändere sich für die Bevölkerung nichts und alles bliebe letztlich so wie jetzt. Man muss den Menschen reinen Wein einschenken. Die Kliniklandschaft, wie wir sie heute kennen, ist in dieser Form offenkundig nicht mehr haltbar und nicht mehr notwendig. Nach der Reform wird es einen gewissen Teil der Kliniken nicht mehr als Krankenhaus geben. Das ist sicherlich schmerzhaft für Politiker vor Ort, weil Krankenhäuser als heilige Kühe gelten, die man nicht schlachten will. Doch wenn am Ende die heilige Kuh verhungert, ist auch keinem gedient. Mit der Reform muss verhindert werden, dass Krankenhäuser durch eine unkontrollierbare Insolvenzwelle vom Netz gehen. Im Übrigen muss es nicht immer um eine Schließung gehen. Vorstellbar ist auch eine Umwandlung in ein Versorgungszentrum, wo zum Beispiel ambulante Operationen angeboten werden.
Lauterbach will im Zuge der Krankenhausreform auch die Notfallversorgung reformieren. Er plant gemeinsame Leitstellen und von niedergelassenen Ärzten und Kliniken zusammen betriebene Notfallzentren. Gehen Sie mit?
Das System der Notfallversorgung muss grundsätzlich neu organisiert werden, denn es wird verstopft von Menschen, bei denen es sich nicht wirklich um Notfälle handelt. Das kostet viel Geld und bindet Ressourcen. Da fährt ein Rettungswagen raus, weil sich jemand den Finger in der Tür geklemmt hat – und dann kommt der Wagen nicht rechtzeitig zu einem Herzinfarkt. Deshalb macht es Sinn, den Klinik-Notdienst und den ärztlichen Bereitschaftsdienst virtuell zusammenzuschalten, um die Patientinnen und Patienten über die 112 beziehungsweise 116117 per Ersteinschätzung richtig zu leiten.
Und was halten Sie von den angedachten Notfallzentren mit einem gemeinsamen Tresen von Kliniken und Praxen?
Als Sprachfigur ist der gemeinsame Tresen richtig- einen physischen gemeinsamen Tresen wird es wohl in der Regel nicht geben und braucht es auch nicht. Woher sollten wir auch das Personal für so eine „Ersteinschätzungsjury“ nehmen? Eine durchschnittliche Notaufnahme in einem Krankenhaus hat einen Patienten in der Stunde. Da ist jedem klar, dass das nicht tragfähig ist, weder finanziell noch personell. Außerdem: Wer noch selbst in eine Notaufnahme gehen kann, ist oft kein echter medizinischer Notfall. Wer weiterhin direkt in die Notaufnahme geht, ohne vorher die Leitstelle anzurufen, muss gegebenenfalls eine Notfallgebühr entrichten, denn das kostet die Solidargemeinschaft unterm Strich mehr Geld und bindet unnötig medizinische Ressourcen. Es wird immer argumentiert, derartige Gebühren seien unsozial. Unsozial ist in meinen Augen jedoch, den Notdienst unangemessen in Anspruch zu nehmen und damit das Leben anderer Menschen zu gefährden.
Lassen Sie uns bei den Gesundheitsstrukturen bleiben. Lauterbach will Finanzinvestoren aus Arztpraxen herausdrängen. Ist das berechtigt?
Es gibt Entwicklungen, die tatsächlich bedenklich sind. Wenn sich zum Beispiel in Zahnarztpraxen Investoren breit machen, die gleichzeitig Implantate und auch noch Zahnarztstühle herstellen, dann kann der Verdacht aufkommen, dass nicht mehr das Wohl der Patienten im Mittelpunkt steht, sondern der Gewinn. Allerdings muss man realistisch bleiben: Der Braten ist in weiten Teilen längst verteilt, und es gibt Bestandsschutz. Die beste Abwehr von Kapitalinvestoren ist, den inhabergeführten Praxen eine auskömmliche Finanzierung zukommen zu lassen und ihnen unternehmerische Freiheiten zu lassen. Das geschieht erkennbar nicht.
Also die Finanzinvestoren in Ruhe lassen?
Es ist jedenfalls keine Gefahr im Verzug. Denn die Dynamik auf dem Markt hat spürbar nachgelassen. Wahrscheinlich haben die Investoren mittlerweile gemerkt, dass man mit Gesundheit in Deutschland doch nicht so viel Geld verdienen kann. Richtig wäre aber auf alle Fälle, für Transparenz zu sorgen. Die Patientinnen und Patienten haben ein Recht zu erfahren, von wem sie eigentlich behandelt werden. Gesundheitsminister Lauterbach will endlich bei der Digitalisierung vorankommen. Jedes Kassenmitglied soll automatisch eine Patientenakte bekommen. Ist das der richtige Weg? Grundsätzlich ist eine elektronische Patientenakte eine gute Sache. Das weiß jeder, der schon einmal fehlende Befunde besorgen musste. Aber das erklärte Ziel einer verpflichtenden Einführung Mitte 2024 ist für jeden erkennbar unrealistisch, weil die technischen Voraussetzungen fehlen. Auch Datenschutzfragen müssen noch diskutiert und geklärt werden.
Was meinen Sie konkret?
Geplant ist, dass die Gesundheitsdaten aus der Akte pseudonymisiert für Forschungszwecke zur Verfügung stehen, ohne dass der oder die Betroffene der Verwendung im Einzelfall zugestimmt hat. Ich bin der Letzte, der den Nutzen wissenschaftlicher Forschung und damit der Datenauswertung in Frage stellt. Aber es ist ein Paradigmenwechsel, wenn Daten, die bislang nur dem Arzt oder der Ärztin des Vertrauens bekannt sind, künftig von der Pharmaindustrie verwendet werden können. Dazu muss man auch wissen, dass die Pseudonymisierung kaum wirksam ist, wenn die Patientengruppe sehr klein ist.
Was schlagen Sie vor?
Die Daten dürfen nicht automatisch genutzt werden. Das sorgt für Misstrauen und kann dazu führen, dass Versicherte die Patientenakte erst recht abwählen. Nötig ist eine aktive, informierte Entscheidung. Wenn sich die Versicherten bewusst per Klick für die Nutzung entscheiden, weil sie wollen, dass mit ihren Daten anderen Menschen geholfen wird, ist nichts dagegen einzuwenden.
Gassen ist Orthopäde, Unfallchirurg und Rheumatologe. Seit März 2014 ist er Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Zuletzt wurde er im März im Amt bestätigt. Die KBV ist die Dachorganisation der 17 regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen und die politische Interessenvertretung der rund 180.000 in Praxen ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen.