GastbeitragKirche steht nicht für Hoffnung, sondern für Schrecken ohne Ende
- Hubert Wolf ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Münster und Verfasser zahlreicher Bestseller über die katholische Kirche.
- Er meint: Statt das Licht der Weihnachtsbotschaft zu verbreiten, sind Kirchenvertreter verantwortlich für Verdunkelung und Vertuschung.
Die „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ zu teilen und nach den „Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“ – das ist, zumindest nach eigenem Selbstverständnis, die Aufgabe der katholischen Kirche in der Welt von heute. Jedenfalls steht das so in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Kirchenvertreter immer wieder gern als Magna Charta der Zeitgemäßheit des Katholizismus zitieren. Aber praktisch ist von dieser großartigen Aufgabe der katholischen Kirche in der derzeitigen Corona-Pandemie so gut wie nichts zu spüren. Im Gegenteil: Die Kirche beschäftigt sich fast ausschließlich mit sich selbst.
Es geht um Selbsterhaltung, es geht um – in der Pandemie natürlich notwendige – Zugangsbedingungen und Sitzordnungen für Weihnachtsgottesdienste. Darunter droht die frohe Botschaft der Menschwerdung Gottes unterzugehen. Von echter Kreativität, tatsächlich einmal „Stille Nacht“ zu feiern, ist – von rühmlichen Ausnahmen abgesehen – nichts zu spüren. Läge nicht in den Kontaktbeschränkungen eine Chance zur Konzentration auf das Wesentliche? Gott wird Mensch draußen, in der Stille des Stalls, nicht im Lärm des weihnachtlichen Gelages bei Gans und Wein. Welch vertane Chance!
Aber Hoffnung auf wirkliche Menschwerdung und erlöstes Menschsein kann die Kirche derzeit ohnehin kaum glaubhaft vermitteln. Sie steht vielmehr für einen Schrecken ohne Ende, für den unsäglichen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, von Amtsträgern teils sogar mit dem religiösen Totschlagargument erzwungen: Gott will es. Statt Licht zu verbreiten, sind Kirchenvertreter verantwortlich für Verdunkelung und Vertuschung. Die Zeichen der Zeit ehrlich zu erkennen, hieße radikale Umkehr und Buße; hieße Rücktritt und Bestrafung der Verantwortlichen; hieße effektive Reformen sofort, statt falsche Hoffnungen auf „Synodale Wege“ zu wecken, die am Sankt Nimmerleinstag immer noch nicht an ein Ziel gelangt sein werden.
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Wer die Sorgen der Menschen teilen will, wer mit der Deutung der Zeichen der Zeit überzeugen soll, der braucht vor allem eins: Glaubwürdigkeit. Und davon ist die katholische Kirche meilenweit entfernt. Deshalb verwundert es nicht, dass man von der Kirche zu den Herausforderungen dieser Zeit kaum etwas hört. Denn wer wollte notorischen Lügnern glauben?
Dabei gäbe es so vieles, was im Licht der christlichen Botschaft nach einer Deutung verlangte. Da sind die Güterabwägungen, die einem bei der Bewältigung der Corona-Krise auf Schritt und Tritt begegnen: Welche unterschiedliche Werte stehen hier zur Disposition? Wie setzt man zum Beispiel Wirtschaft und Gesundheit ins Verhältnis? Der Schutz des menschlichen Lebens ist dabei sicher ein ganz entscheidender Wert.
Aber ist Leben nicht mehr, als biologisches Funktionieren? Besteht Leben – gerade auch nach katholischer Tradition – nicht maßgeblich in Kommunikation? Wie kann man Infektionsschutz und notwendige Kontakte speziell pflegebedürftiger Menschen verantwortet zueinander in Beziehung setzen? Dazu verfügt die katholische Theologie über einen ungeheuer reichen Schatz an Erfahrungen und Argumenten. Aber katholische Medizinethik kommt in den öffentlichen Debatten so gut wie nicht vor.
Braucht nicht der ganze Planet einen Shutdown?
Natürlich ist die Pandemie keine Strafe Gottes, wie manche Fundamentalisten meinen. Aber vielleicht darf man sie doch als ein Zeichen der Zeit verstehen, das nach Deutung verlangt und uns zum Umdenken aufruft. Bei all den Rettungsschirmen gewinnt man leicht den Eindruck, es gehe nur darum, dass hinterher, wenn die Pandemie vorbei sein wird (falls sie das denn sein sollte), wieder alles so weitergehen soll, wie es vor Corona war. Deshalb werden vor allem Fluglinien, Touristikanbieter und die Autoindustrie mit Abermilliarden unterstützt. Aber brauchen der überhitzte Planet und die überhitze Menschheit nicht dringend eine Abkühlung, einen Shutdown im Wortsinn?
Der christliche Schöpfungsglaube böte sich hier als erhellendes Licht einer Deutung an: Die Schöpfung ist uns anvertraut, um sie zu bewahren, nicht, um sie auszubeuten und zu vernichten. Das verlangt gegebenenfalls, unser Verhalten grundlegend zu verändern. Muss man wirklich für zwei Tage nach Mallorca fliegen? Kann moderne Mobilität nicht ganz anders aussehen? Darf man wahnsinnig gewordene Politiker mit ihrer Zerstörung des Regenwalds einfach gewähren lassen? Der Haupteinwand, der hier gerne kommt, lautet, das alles schränke „unsere Freiheit“ ein. Nein! Freiheit ist nicht mit Willkür zu verwechseln. Freiheit meint „Bindung an das erkannte Gute“, wie schon der Philosoph Hegel treffend formuliert hat. Hier wäre die Stimme der katholischen Kirche als geborener Global Player notwendiger denn je.
Die Zeichen der Zeit verlangen dringend nach einer Deutung. Aber der Kirche fehlt dafür jede Glaubwürdigkeit. Wenn sie weiter vertuscht, verschweigt und verdunkelt, kann sie sich nicht einmal selbst dem klaren Licht des Evangeliums aussetzen. Die Zeichen der Zeit für die katholische Kirche selbst sind deshalb klar: radikale Umkehr und radikale Reform. Heute und nicht erst morgen. Sonst verkommt die Kirche zu einer fundamentalistischen Sekte, mit der kein Mensch von heute mehr seine Sorgen und Hoffnungen teilen will.