Unser Autor berichtet in seinem Report von den jüngsten Raketenangriffen auf Kiew: ein Alltag außer Kontrolle.
ReportageKiew – Ein Alltag zwischen Raketenwarnungen und Stromausfällen
Für diejenigen von uns, die in einer Zeit leben, in der das „Smart Home“ entscheidet, wann Wäsche gewaschen oder Geschirr gespült wird; in der selbstfahrende Autos Realität sind und KI-Dienste wie ChatGPT fast jede Frage beantworten können, ist es schwer vorstellbar, dass diese Annehmlichkeiten plötzlich verschwinden könnten. Doch wie die Realität in der Ukraine zeigt, ist die komfortable Existenz des modernen Lebens zerbrechlich und unberechenbar.
Kiew, 26. August. Es ist der Tag der schwersten kombinierten Raketen- und Drohnen-Angriffe Russlands auf die Ukraine. Ich wache schon morgens um 5 Uhr auf. In einer meiner Messaging-Apps auf dem Handy lese ich, dass strategische Bomber von russischen Flugplätzen gestartet sind. Mit ersten Raketen im ukrainischen Luftraum sei gegen 8 Uhr zu rechnen. Ich wecke meine Frau Olena. Fast schon routiniert treffen wir unsere Vorbereitungen: Essen für uns und unsere kleine Tochter Emilia einpacken, dazu Wasser, Windeln, Wechselkleidung, ein paar Spielsachen. Olena hat Eier und Würstchen gekocht, einen Thunfisch-Kartoffel-Salat zubereitet und einen Haferkuchen mit Beeren gebacken. Der Anblick des Essens hebt unsere Stimmung ein wenig.
Vorsorglich hatte ich bereits etliche Fünf-Liter-Behälter mit Wasser gefüllt und unsere „Eco Flow“ aufgeladen. Man kann nie wissen. Die Powerstation, die Freunde aus Berlin uns geschickte haben, ist im Alltag längst zur Lebensretterin geworden. Sie hält bei den ständigen Stromausfällen unseren Kühlschrank am Laufen, verhindert so das Verderben von Lebensmitteln, und sie erlaubt es uns, Laptops und Mobiltelefone in Betrieb zu halten.
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Als Emilia um 7.30 Uhr aufwacht, sind wir bereit zum Aufbruch. Kürzlich ist in unserem Viertel ein Luftschutzbunker eröffnet worden. Dorthin machen wir uns auf den Weg: Frau und Tochter, unser Hund Beauty und ich. Gegen 8.10 Uhr hören wir die ersten schweren Explosionen in der Nähe. Der Bunker macht auf mich einen überraschend positiven Eindruck: saubere Böden, Innenbeleuchtung, eine Toilette und sogar eine Dusche. Aber das Wichtigste: Er ist so gebaut, dass er etwaigen Raketentreffern standhält.
Viele Menschen sind schon vor uns im Schutzraum angekommen. Über uns können wir zahlreiche Explosionen hören. Plötzlich fällt der Strom aus, die Internetverbindung bricht ab. Leichte Panik greift um sich. Wie wir später erfahren, haben die Russen eine der Energieanlagen in der Nähe von Kiew getroffen. Dort, wo das Internet funktioniert, geben die Menschen Informationen aus Telegram-Kanälen weiter, wohin russische Raketen und Drohnen gerade unterwegs sind.
Kiew: Ein Alltag zwischen Raketenwarnungen und Stromausfällen
Nach einer Stunde wird es ruhig. Alle verlassen den Bunker und begeben sich zu den nahe gelegenen Geschäften, die alle von leistungsstarken Dieselgeneratoren mit Strom versorgt werden. Zufällig treffen wir alte Freunde mit kleinen Kindern. Ich gehe ins nächste Café, um Kaffee für uns und warmes Wasser für Emilia zu holen. In der Schlange diskutieren die Wartenden lebhaft über die Folgen des russischen Raketen- und Drohnenangriffs. Es ist seltsam. Die wenigsten Menschen wirken verängstigt. Im Gegenteil. Es ist fast, als hätte es gar keine tödliche Gefahr gegeben.
So bewegt sich unser Alltag zwischen Raketenwarnungen und Stromausfällen. Die Tage im August sind heiß, brütend heiß. Die Außentemperatur erreicht teils 43 Grad Celsius. Dann ist es auch drinnen in unserer Wohnung unerträglich. Dazu kommt das angestrengte Brummen von Dieselgeneratoren als ständiges Hintergrundgeräusch. „Warum geht Mama nicht ans Telefon?“, hadert meine Frau Olena an einem dieser typischen Tage. „Ich kann sie seit gestern Abend nicht erreichen. Papa anzurufen ist zwecklos. Er geht sowieso nie ran.“ Die Frustration in ihrer Stimme ist deutlich, als sie erst das Telefon und dann sich selbst auf die Couch wirft.
Über Nacht haben die Russen mit Raketen und Drohnen wieder ukrainisches Gebiet angegriffen
Emilia greift mit ihren kleinen Händen nach dem Telefon und brabbelt ins Bildschirm-Display: „Hallo, hallo, Oma, Oma!“ Die Einjährige an den täglichen Videochat mit ihrer Gr0ßmutter gewöhnt. Am Vortag hat das nicht geklappt, und auch jetzt funktioniert es nicht. Längere Ausfälle der Elektrizitätsversorgung haben die Mobilfunk-Basisstationen wieder einmal lahmgelegt und sowohl die Handy-Kommunikation als auch das Internet zeitweilig unterbrochen.
Olenas Besorgnis, was ihre Eltern angeht, ist berechtigt: Über Nacht haben die Russen mit Raketen und Drohnen wieder ukrainisches Gebiet angegriffen. Die Eltern meiner Frau leben in der Nähe eines Militärflugplatzes in Wassylkiv, Region Kiew, einem häufigen Ziel solcher Angriffe. Abgeschnitten von der Mobilfunk-Kommunikation, haben wir keine Möglichkeit zu erfahren, ob sie in Sicherheit sind. Im März und April 2024 hat die russische Armee mit Präzisionsschlägen systematisch ukrainische Wärme- und Wasserkraftwerke zerstört.
Als die Temperaturen im Juni stiegen, wurden die Stromausfälle länger und kamen häufiger
Auf der Berliner Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine am 11. Juni berichtete Präsident Wolodymyr Selenskyj: „Infolge russischer Raketen- und Drohnenangriffe wurden bereits neun Gigawatt Kapazität zerstört. Der Spitzenstromverbrauch im letzten Winter betrug 18 Gigawatt pro Tag. Putin hat 80 Prozent der thermischen Stromerzeugung der Ukraine und ein Drittel ihrer Wasserkraftkapazität vernichtet. Und dieser Terror zeigt keine Anzeichen des Aufhörens.“
Die Stromausfälle begannen im Mai, den Energiespezialisten den „Überschuss-Monat“ nennen: In einer Phase, in der die Heizsaison bereits beendet ist und die Sommerhitze noch nicht eingesetzt hat, ist der Energieverbrauch eigentlich minimal. Die Stromausfälle waren kurz und beherrschbar. Sie beeinträchtigten das tägliche Leben kaum. Aber als die Temperaturen im Juni stiegen, wurden die Stromausfälle länger und kamen häufiger. Mitte Juli, als das Thermometer über 35 Grad kletterte, wurde die Situation kritisch.
Wir sind im Wesentlichen all dessen beraubt, was ein normales Familienleben ausmacht
Am schlimmsten sind die Bedingungen in Kiew selbst. Das liegt daran, dass Wohnhäuser in der Hauptstadt bis zu 25 Stockwerke hoch sein dürfen, die örtlichen Brandschutzvorschriften aber vorschreiben, dass die Gebäude ausschließlich mit Strom versorgt werden dürfen, ohne Gasleitungen. Vor der russischen Invasion Anfang 2022 erlebte Kiew einen Boom beim Bau solcher Hochhäuser. In einem von ihnen hatte auch ich damals eine Wohnung gekauft. Folglich sind wir während der Stromausfälle, wie die große Mehrheit der Bewohner Kiews, ohne Herd, ohne Kühlschrank und auch ohne fließendes Wasser, weil die Notstrom-Elektromotoren das Wasser nicht höher pumpen können als bis zum neunten Stock. Von einem Luxus wie Klimaanlagen will ich gar nicht reden. Wir sind im Wesentlichen all dessen beraubt, was ein normales Familienleben ausmacht.
Unsere größte Sorge war lange die Ernährung unserer Tochter. Am 20. Juni ist Emilia ein Jahr alt geworden. Sie hatte begonnen, feste Nahrung zu essen, aber die Zubereitung war aufgrund der unberechenbaren Stromausfälle eine echte Herausforderung. Anfangs hatten die Stromversorger noch Abschaltpläne veröffentlicht, damit die Menschen ihre Aktivitäten danach richten könnten. Aber die Angaben waren eher eine Farce als ein zuverlässiger Leitfaden. Oft war der Strom stundenlang über die avisierte Zeit hinaus weg, oder er wurde viel früher abgestellt. Chaos pur.
In diesem Moment sind wir wahrscheinlich die glücklichsten Menschen der Welt
Da, ein Piepsen! Der Strom ist wieder da. Die Elektrogeräte in unserer Wohnung erwachen zum Leben. Wasser beginnt in den Boiler zu fließen. Es ist schwer zu beschreiben, aber in diesem Moment sind wir wahrscheinlich die glücklichsten Menschen der Welt. Wann immer der Strom zurückkehrt, hatte jeder von uns seine festen Aufgaben. Olena eilt zum Herd, um Essen für Emilia zu kochen. Ich belade die Waschmaschine mit Emilias Kleidung und stelle den kürzesten Waschgang ein. Dann schaffe ich den Kinderwagen mit dem Aufzug hinunter in den ersten Stock.
Meine Frau informiert mich, dass wir voraussichtlich für drei Stunden Strom haben werden. Ich sollte erwähnen, dass Olena ausschließlich für Emilia kocht. Was uns beide betrifft, ernähren wir uns üblicherweise von Sandwiches oder vorgekochten Würstchen mit Gemüse. Manchmal, wenn wir Glück haben, tauchen Reis- oder Haferbrei auf unserem Speiseplan auf. Wir stellen auch sicher, Wasser abzukochen und in Thermoskannen aufzubewahren.
Unter Tränen beschreibt Nina das furchterregende Geräusch von Raketen
Olenas Telefon klingelt schrill. Es ist ihre Mutter. Emilia quietscht vor Freude: „Oma, Oma!“ Olena stellt den Lautsprecher an, während sie weiter kocht. Nina, Emilias Großmutter, erzählt, sie und ihr Mann hätten wieder die meiste Zeit der Nacht im Keller verbracht, während russische Raketen den nahe gelegenen Militärflugplatz angriffen. Ohne Strom und damit ohne Mobilfunksignal oder Internet hatten sie keine Warnung vor dem Angriff. Die Luftschutzsirenen blieben stumm.
Ohne zu wissen, ob der Raketenangriff beendet war, harrten sie bis zum Morgengrauen im Keller aus. Unter Tränen beschreibt Nina das furchterregende Geräusch von Raketen, die über sie hinwegdonnerten. Dann wendet sich ihr Telefonat alltäglicheren Themen zu: wie man Suppe für Emilia mit fein gehackten Kartoffeln, Brokkoli und Putenhackbällchen zubereitet und wie man belgische Waffeln mit Zucchini macht. Das Gespräch über das Kochen scheint die Nerven meiner Schwiegermutter zu beruhigen.
Bei den unvorhersehbaren Stromausfällen bleiben Hunderte von Menschen in Aufzügen hängen
Inzwischen habe ich mich für einen Spaziergang mit dem Hund vorbereitet, einer englischen Bulldogge. Als wir gerade vor unserer Wohnungstür im 14. Stock stehen, fällt erneut der Strom aus. Ich nähere mich dem Aufzugschacht auf unserer Etage und hörte erregte Stimmen: Erwachsene und Kinder stecken im Lift fest. Einige weinen. Immer wieder geraten die Bewohner von Hochhäusern in dieser Lage. Sie ist in Kiew zu einem echten Problem geworden. Bei den unvorhersehbaren Stromausfällen bleiben Hunderte von Menschen in Aufzügen hängen. Für diejenigen mit Klaustrophobie ein Alptraum.
Ich kann den Nachbarn im Moment nicht helfen. Ich nehme Beauty auf den Arm und trage sie hinunter ins Erdgeschoss. Englische Bulldoggen haben schwache Gelenke, Treppensteigen kann dauerhafte Schäden verursachen. Als wir den ersten Stock erreichen, informiere ich die Concierge darüber, dass Mitbewohner im Aufzug festsitzen. Sie ruft das Reparaturteam.
Kaum wieder oben in der Wohnung, wird es für Olena und mich Zeit, Emilia nach unten zu bringen. Zu dritt steigen vorsichtig die Treppen hinunter. Meine Frau nimmt Emilia mit zum Spielplatz. Ich gehe zurück, um zu arbeiten.
Ein paar Stunden hole ich Olena und Emilia vom Spielplatz ab. Als ich ankomme, höre ich zufällig eine Gruppe junger Mütter, in eine hitzige Diskussion verwickelt. Eine Frau schimpft darüber, dass „Selenskyjs Regierung Strom ins Ausland verkauft und sich auf Kosten der einfachen Ukrainer bereichert. Deshalb sind diese Stromausfälle so weit verbreitet.“ Sie zeigt eine Nachricht aus einer anonymen Telegram-Gruppe. Ich mache ein Foto. Bei einer Recherche im Internet komme ich darauf, dass es sich um Propaganda handelt, die auf russischen Telegram-Kanälen verbreitet wird. Ich verstehe den Unmut der Frau. Sie muss ihre kleine Tochter jeden Tag 21 Stockwerke hoch und runter tragen. Das erschöpft. In solchen Situationen suchen die Menschen nach jemandem, dem sie die Schuld geben können.
Auf dem Spielplatz greift eine andere Mutter die Vorwürfe auf. Die wohlhabenden Viertel Kiews seien von den Stromausfällen ausgenommen. Diese beträfen nur die dicht besiedelten Gebiete der Stadt. Ich versuche zu erklären, dass das unmöglich zu verheimlichen wäre. Auf der Website der Regierung könne jeder sehen, dass überall Stromausfälle stattfänden. Ich weise auch darauf hin, dass bestimmte Straßen tatsächlich mit Strom versorgt bleiben. Aber nur, weil dort kritische Infrastrukturen wie Krankenhäuser und Wasserpumpstationen stehen.
Abends waschen wir Emilia in einem großen Plastikzuber. Vom Spielplatz ist sie über und über mit Sand bedeckt. Ich bediene mich aus unserem Wasservorrat auf dem Balkon. Von einem richtigen Bad ist die Prozedur weit entfernt. Aber es genügt. Meine Frau und ich waschen uns auch, wann immer möglich. Aber wenn der Strom ausfällt, müssen ein paar Feuchttücher reichen.
Spätabends sitze ich meinem Sessel. Emilia schläft tief und fest, eingelullt vom Brummen der Generatoren. In der Etage über uns versucht unser Nachbar, vielleicht in einem Anfall von Verzweiflung, „Sultans of Swing“ von den Dire Straits auf einer akustischen Gitarre zu spielen. Es läuft nicht besonders gut. Trotzdem nicke ich irgendwann ein.
„Weißt du, wir leben wie bei ‚Und täglich grüßt das Murmeltier‘“
Um zwei Uhr nachts weckt mich das Piepsen der elektrischen Geräte. Der Strom ist wieder da. Ich wecke Olena, und wir beginnen unsere Routine: Sie kocht Essen für Emilia, ich erledige andere Aufgaben. Als Olena die frisch gebackenen belgischen Waffeln aus dem Waffeleisen zieht, muss sie auf einmal lachen: „Weißt du, wir leben wie bei ‚Und täglich grüßt das Murmeltier‘.“ Ich kann nicht anders, als auch zu lachen. Auf eine bizarre Art ist es wirklich fast wie in dem Kultfilm von 1993, in dem Bill Murray den egozentrischen Wettermoderator Phil Connors spielt.
Am Morgen rufen wir Oma an, frühstücken, bringen den Kinderwagen in den ersten Stock, holen Emilia, dann den Hund. Und so setzt sich der Zyklus fort, bis unser nächster „Murmeltier-Tag“ endet, wenn auch ohne Connors' metaphysisches Sinnieren über ein erfülltes Leben.