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Kommentar

Kolumne
Alles Idioten – außer mir!

Ein Kommentar von
Lesezeit 3 Minuten
Eine junge Frau hält ein Pappschild mit der Aufschrift „Fuck“ bei einem Protestzug der Klimaschutzbewegung Fridays for Future durch die Innenstadt.(Symbolbild)

Protestschild auf einer Demonstration in Hamburg (Symbolbild)

„Scholz, Habeck, Baerbock, Lindner, Merz, sie überzeugen alle nicht.“ Unser Kolumnist Erik Flügge fragt sich, wie es kommt, dass zurzeit alles auf die Politiker schimpft.

Der Frust sitzt so tief. In jedem Gespräch über unsere Gesellschaft kann man ihn aktuell spüren. Die Leute haben den Kaffee auf – mit dem Kanzler, seinem Kabinett und mit dem Oppositionsführer gleich dazu. Scholz, Habeck, Baerbock, Lindner, Merz, sie überzeugen alle nicht. Man ist mit dem Ist-Zustand unzufrieden und findet die Alternative gleichermaßen unattraktiv. Alles Idioten also an der Spitze der deutschen Politik? Ziemlich unwahrscheinlich.

Wenn tatsächlich die Spitzen von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP gleichermaßen unfähig wären, dann hätten vier große Parteien bei der Personalauswahl zeitgleich versagt. Das wäre schon sehr, sehr ungewöhnlich. Noch dazu käme, dass wir alle - die demokratische Mitte insgesamt – uns als Wählerinnen und Wähler egal welcher Couleur zeitgleich verwählt hätten. Olaf Scholz stand 2021 zur Wahl und gewann. Annalena Baerbock holte ein grünes Rekordergebnis, und Christian Linder legte mit der FDP zu. Nur Friedrich Merz kam erst nach der Bundestagswahl an die CDU-Spitze, und obwohl viele irritiert von der Politik der Ampel sind, traut nahezu niemand in Deutschland ihm die Kanzlerschaft zu.

Einer der größten historischen Zufälle der Demokratiegeschichte?

Entweder erleben wir gerade hierzulande einen der größten historischen Zufälle der Demokratiegeschichte weltweit, oder etwas anderes ist los. Wenn sich alles schräg anfühlt; wenn alle anderen alles falsch machen; wenn alle anderen doof sind – dann hilft es meist, mal ganz kurz in den Spiegel zu schauen. Liegt's wirklich an allen anderen oder vielleicht auch ein bisschen an mir selbst?

Vor wenigen Wochen wurden neue Zahlen zur Arbeitsbelastung der Deutschen veröffentlicht. Knapp 60 Prozent der Berufstätigen sprachen von zunehmendem Stress in den vergangenen ein bis zwei Jahren. Stress, der entstand durch die ständigen Horrormeldungen über die Klimakatastrophe, den Krieg, die Inflation und durch wachsende Ansprüche der Leute an sich selbst im Berufsleben. Zudem ist es schlicht eine Realität, dass zurzeit wesentlich mehr Menschen in Rente gehen als neu in den Arbeitsmarkt eintreten. Es gibt, anders gesagt, weniger junge Menschen als ältere.

Gestresste Menschen werden selbstgerecht

Damit wächst der Druck durch viel zu viele unbesetzte Stellen. Je gestresster Menschen sind, desto weniger sind sie willens, komplexe Problem als solche zu akzeptieren. Sie haben keine Kraft zum Nachvollziehen mehr, sondern wollen einfach, dass es aufhört. Sie machen anderen ungerechtfertigte Vorwürfe, sie werden selbstgerecht: An mir liegt's nicht, sondern an allen anderen.

Wirtschaftsminister Habeck hat den Klimawandel nicht zu verantworten, den er bekämpfen will. Der Kanzler hat den Krieg gegen die Ukraine nicht ausgelöst. Finanzminister Lindner hat die Inflation, die er einzudämmen versucht, nicht gewollt, und Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat Corona nicht erfunden. Es sind allesamt Politiker, die mit Krisen umgehen und denen immer mehr Wut entgegenschallt, weil all diese Krisen uns stressen und weil die Lösungen leider komplex sind.

Es sind nicht alles Idioten außer mir. Und manchmal hilft es schon, sich zumindest das einzugestehen.