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Kommentar

Gastkommentar von Heino Falcke
„Globalismus“-Vorwurf: Flacherdler liegen doppelt falsch

Ein Kommentar von
Lesezeit 5 Minuten
Ansicht der Erdkugel - hier mit dem Subkontinent Südamerika

Ansicht der Erdkugel - hier mit dem Subkontinent Südamerika

Heino Falcke, Radio-Astronom und Experte für schwarze Löcher, macht sich Sorgen darüber, dass „Globalist“ als Schimpfwort verwendet wird.

„Du bist ja ein Globalist!“, schallt es mir plötzlich entgegen. Wir sitzen nach einem anstrengendem Pilgertag auf dem Jakobsweg in einem zur Pension umgebauten alten Bauernhof in der französischen Provinz. Angeregt diskutiere ich mit einem pensionierten französischen Mittelständler in englischem Kauderwelsch über unsere unterschiedliche Sicht auf die Welt. Tatsächlich! Das Wort Globalist ist als Vorwurf gemeint – nicht böse, aber doch freundlich empört.

Die Sehnsucht nach der kleinen, überschaubaren Welt scheint ungebrochen. Ich kann auch nicht leugnen, dass es – wenn man gerade dieses idyllische Stück der Welt durchstreift – kaum mehr braucht, um glücklich sein. Aber ich muss alle Träumer enttäuschen. Die Welt ist eine Kugel. Darum bin ich Globalist – es bleibt mir ja auch nichts anderes übrig. Das Wort Globalist kommt schließlich von „globus“, dem lateinischen Wort für Kugel.

Noch im tiefsten Mittelalter gehörte das Wissen um die Kugelform der Erde zur guten Bildung.
Heino Falcke

Dass die Welt eine Kugel ist, ist eine sehr alte Erkenntnis. Schon Eratosthenes hatte im 3. Jahrhundert v. Chr. den Erdumfang mithilfe astronomischer Beobachtungen erstaunlich genau berechnet. Noch im tiefsten Mittelalter gehörte das Wissen um die Kugelform der Erde zur guten Bildung in Klöstern und Königshäusern. Man sieht die Erde als Kugel auf Zeichnungen zur Erklärung von Sonnenfinsternissen, und die Könige halten einen Erdball mit Kreuz in der Hand – als Zeichen dafür, wie Christus über der Welt thront.

Als Kolumbus die neue Welt entdeckte, waren auch im Europa seiner Zeit die ersten Erdgloben schon längst gefertigt. Heute können Schulklassen Stratosphärenballons mit Digitalkameras aufsteigen lassen und die Erdkrümmung von oben fotografieren – die Ballons könnten allerdings Gefahr laufen, von US-Düsenjägern abgeschossen zu werden, weil sie für chinesische Spionageinstrumente gehalten werden.

Alle großen Probleme unserer Zeit sind global, ob wir das wollen oder nicht.
Heino Falcke

Auf dem Markt der kuriosen Verschwörungstheorien bekommt die Idee einer flachen Erde, dank des globalen Internets, dennoch immer wieder mal neue Aufmerksamkeit. Angeblich glauben heute mehr Menschen an die Scheibenform der Erde als im Mittelalter. Wegen der absoluten Zahlen ist das glaubhaft. Immerhin 19 Prozent der Amerikaner denken heute entweder, dass die Erde flach sei, oder sind sich zumindest nicht sicher. In Deutschland gibt es dazu keine belastbaren Zahlen, wahrscheinlich auch, weil die Anzahl bekennender Flacherdler zu klein ist. Aber wer weiß, mit welchen kruden Theorien vorgebliche Frei- und Querdenker angesichts des rasanten Vertrauensverlusts von Medien, Wissenschaft und Gesellschaft demnächst noch alles ankommen werden.

Allerdings halte ich es für unwahrscheinlich, dass wir Europäer bald massenhaft glauben, die Erde sei flach. Was mir mehr Sorgen macht, ist, dass wir manchmal so tun, als wäre sie es. Eine Welt, in der das Wort Globalist ganz selbstverständlich ein Schimpfwort ist, verkennt die Realität, in der wir leben. Alle großen Probleme unserer Zeit sind global, ob wir das wollen oder nicht.

Gestalten geht nur, wenn man mehr anzubieten hat als kaputte Regierungsflieger und Faxgeräte-Bürokratie.
Heino Falcke

Dass selbst geographisch begrenzte Kriege unsere Lebensumstände massiv beeinflussen, haben wir mit Syrien und der Ukraine schmerzhaft erfahren müssen. Wind und Wetter machen an Grenzen keinen Halt, Flüchtlinge auf Dauer auch nicht, genau so wenig wie neue Technologien oder ökonomische Zwänge. Je nach politischer Couleur glaubt man dann, bestimmte Menschengruppen oder bestimmte Technologien draußen halten zu können. Beides wird nicht funktionieren. Von Jericho bis Berlin hat die Geschichte der Mauern gezeigt, dass sie irgendwann einstürzen.

Globalisierung ist natürlich Chance und Bedrohung zugleich. Vor allem aber ist sie eine Realität, der wir uns stellen und für die wir fit sein müssen. Dann haben wir Chancen, diese Realität mitzugestalten, anstatt von ihr andauernd überrollt zu werden.

Diesen Realitätssinn und eine entsprechende Aufbruch- oder Anpackstimmung vermisse ich manchmal in unserem angstbesetzten Land. Gestalten geht nur, wenn man mehr anzubieten hat als kaputte Regierungsflieger und Faxgeräte-Bürokratie. Global gestalten erfordert Zusammenarbeit, gesellschaftliche und technologische Innovationsfähigkeit, Mut, Glaube, Hoffnung und tatsächlich auch etwas Liebe füreinander.

Am Ende wollen die Meisten doch lieber zusammenarbeiten, auch wenn es anstrengend ist.
Heino Falcke

Global zusammenarbeiten ist nicht einfach. Als wir 2017 die Aufnahmen für die erste Foto-Darstellung eines schwarzen Lochs mit einem weltumspannenden Netzwerk von Radioteleskopen machten, hatten wir im wahrsten Sinne des Wortes die ganze Welt nötig. Die Technologie war noch fast das geringste Problem. Die verschiedenen Interessen zu bündeln und so eine große Gruppe Akademiker aus fast allen Kontinenten zusammenzuhalten, war gefühlt die größere Herausforderung. Nicht jeder spielt fair in dieser Welt, und selbst in der Wissenschaft zählen Macht und Geld oft mehr als Moral.

Es wurde ein Tauziehen zwischen Wettbewerb und Zusammenarbeit – „kompetitive Kollaboration“ habe ich es hinterher genannt. Es hat damals funktioniert, weil wir alle von einer Idee getrieben waren, zum ersten Mal eine wirklich neue Welt zu entdecken. Wir waren neugierig auf die Zukunft, und am Ende wollen die Meisten doch lieber zusammenarbeiten, auch wenn es anstrengend ist.

Ich wünschte mir, wir würden diese Neugier auf die Zukunft und die Neugier auf diese Welt wieder neu entfachen. Trotz oder gerade wegen aller Herausforderungen. Sie zu bewältigen, das schaffen wir nicht allein. Dafür brauchen wir unsere Nachbarn im Dorf, in unserem Land, in Europa und letztlich in der Welt.

„Ja, ich bin überzeugter Globalist“, habe ich meinem französischen Mitpilger auf dem Jakobsweg gesagt. Ob ich ihn überzeugt habe, weiß ich nicht. Wir sind uns danach noch ein paar Mal begegnet, haben uns mit einem verschmitzten Lächeln begrüßt und über den Weg geredet. Man weiß ja nie, wen man auf seinem Weg nochmal braucht.