Gerade hatte man das erste Mal seit Kriegsbeginn das Gefühl, Deutschland habe einen Bundeskanzler, der weiß, was er will, und mit Leidenschaft für seinen Standpunkt kämpft. Am Sonntag zeigte Olaf Scholz nämlich ein Gesicht, das viele von ihm noch gar nicht kannten, das aber vielleicht sogar noch mehr bisher vermisst hatten. Scholz war zur Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) nach Düsseldorf gereist – am Tag der Arbeit nahezu ein Pflichttermin für einen SPD-Politiker.
Begrüßt wurde Scholz bei seiner Rede jedoch wenig freundlich von „Kriegstreiber“ und „Lügner“-Sprechchören. Der Kanzler reagierte so, wie man ihn kaum kennt: Mit Leidenschaft, kämpferischer Gestik und lauter Stimme erteilte Scholz naiv-pazifistischen Standpunkten eine Absage.
„Ich respektiere jeden Pazifismus, ich respektiere jede Haltung“
„Ich respektiere jeden Pazifismus, ich respektiere jede Haltung“, brüllte Scholz den Demonstranten da entgegen. „Aber es muss einem ukrainischen Bürger zynisch vorkommen, wenn ihm gesagt wird, er solle sich gegen die putinsche Aggression ohne Waffen verteidigen.“ Die Stimme des ruhigen Hanseaten überschlug sich an dieser Stelle fast. Im Hintergrund ertönten dennoch weiter „Frieden schaffen ohne Waffen“-Sprechchöre. Doch Scholz ließ nicht ab. „Ich sage ganz klar, wir werden nicht zulassen, dass hier mit Gewalt Grenzen verschoben und ein Territorium erobert wird.“ Basta.
Da war er plötzlich. Der Kapitän, der mit klaren Worten und klaren Idealen, mit Abwägung und ohne Eitelkeit den Dampfer Deutschland durch die Krise manövriert. Viele hatten sich ein solches Auftreten bereits früher von Scholz gewünscht. Der Kanzler blieb aber lange zögerlich und ließ so zu, dass nicht nur die Republik, sondern auch der Rest der Welt phasenweise darüber rätselte, was ihn antreibt – oder abhält.
Am Sonntag, besser spät als nie, sammelte Scholz dann aber so viele Pluspunkte wie seit seiner Zeitenwende-Rede zu Kriegsbeginn nicht mehr. Nicht nur für die Art und Weise, sondern auch für den Inhalt seiner Aussagen. Da war einerseits das klare Bekenntnis zur Unterstützung der Ukraine, auch mit schweren Waffen. Und andererseits die klare Absage in Richtung aller Verfasser von Offenen Briefen und ihren zynischen Quatschargumenten in den letzten Wochen.
War das nun Scholz‘ Schlüsselmoment?
War das nun Scholz‘ Schlüsselmoment? Nein. Auf die energische Rede in Düsseldorf folgte prompt das andere Gesicht des Olaf Scholz. In der ZDF-Sendung „Was nun?“ wurde der Kanzler am Montag gefragt, warum er bisher nicht nach Kiew gereist sei – und das Kanzler-Chamäleon schaltete auf reserviert. Scholz, am Vortag noch leidenschaftlich und souverän, erklärte sein bisheriges Fernbleiben mit der ukrainischen Absage an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – und wirkte dabei reichlich pikiert. „Das kann man nicht machen“, betonte Scholz. „Das steht der Sache im Weg.“
Keine Frage: Das kann man durchaus so sehen. Steinmeier ist der höchste Repräsentant Deutschlands, die Ukraine wollte ihn nicht empfangen. Freundlich ist das nicht. Ein Grund sich dahinter nun zu verstecken, ist es allerdings auch nicht.
Die Wahrheit ist: Auch vor Steinmeiers misslungenem Reiseversuch verweigerte Scholz sowohl den Besuch in Kiew als auch die Begründung für diese Haltung. Der Kanzler schwieg und blieb in Deutschland. Auch das führte bereits im Vorfeld zur Ablehnung von Steinmeiers Besuch – die Ukrainer wollten Scholz, sollten aber den wegen seiner Nord-Stream-2-Verwicklungen und grundsätzlicher Russland-Politik am Dnepr überaus unbeliebten Bundespräsidenten bekommen, der nicht einmal irgendwas außer netten Worten im Gepäck gehabt hätte. Der Besuch, die Vermutung scheint zulässig, hätte also vor allem Steinmeier, innenpolitisch schwer unter Druck, genutzt. Der Ukraine eher nicht.
Scholz reist zu Jubiläumsfeier um halben Globus
Dass Scholz nicht grundsätzlich reisefaul ist, bewies er übrigens noch letzte Woche: Der Kanzler flog um den halben Globus, um das Jubiläum der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Japan zu feiern. Auch diese Prioritätensetzung dürfte man in Kiew wahrgenommen haben. Nun folgte mit der schmollenden Erklärung seiner Reiseunwilligkeit der nächste plötzliche Temperamentswechsel des Kanzlers – und die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Eine „beleidigte Leberwurst“ sei Scholz, erklärte der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, prompt und sorgte mit dieser so unangemessenen wie zarten Schmähung wiederum für erboste Reaktionen. Und so erlebt der geneigte Beobachter nun die skurrile Situation der grundsätzlichen Einigkeit bei gleichzeitiger individueller Kränkung. Die freche Bemerkung Melnyks hilft freilich derzeit niemand weiter. Gegenüber einer Regierung, die sich gegen einen vernichtenden Angriffskrieg verteidigt, nachtragend zu sein, allerdings auch nicht.
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Während Melnyk und Scholz in Deutschland Katz-und-Maus spielten, grüßte CDU-Chef Friedrich Merz übrigens aus dem Zug nach Kiew. Der Oppositionsführer nutzte die Gelegenheit und reiste in die Ukraine – mit der Billigung von Olaf Scholz, so hieß es. „Er macht es sehr gut“, attestierte der Kanzler seinem ukrainischen Amtskollegen, Wolodymyr Selenskyj, zeitgleich in einem Interview am Dienstag mit dem Stern aus sicherer Distanz. Tags zuvor war es noch das Verhalten Selenskyjs, das einem Besuch in Kiew angeblich im Wege steht.
Das Kanzler-Chamäleon und der undiplomatische Diplomat sollten dringend mit- statt übereinander reden. Dafür könnten Scholz und Melynk doch einfach direkt gemeinsam nach Kiew fahren. Als Reiseproviant bieten sich Leberwurstbrote an.