Präsident Erdogan erfährt viel Zuspruch unter Deutschtürken – zum Teil als Konsequenz aus deren Ausgrenzung. Mehr Mitbestimmungsrechte könnten das ändern.
Kommentar zur Türkei-WahlEine Alternative zu reflexartiger Kritik an Erdogan-Wählern
Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche: Bei jeder Türkei-Wahl kommt Präsident Recep Tayyip Erdogan in Deutschland auf ein besseres Ergebnis als in der Heimat. Natürlich ist es alarmierend, dass so viele Deutschtürken, die die Vorzüge der Demokratie genießen, für einen Autokraten in einem Land stimmen, in dem sie nicht leben – und dort vor allem gar nicht leben wollen. Ein Umzug stünde ihnen ja frei. Eben weil sie aber in Deutschland leben und Teil dieser Gesellschaft sind, könnte eine Konsequenz auch heißen, sie stärker einzubeziehen.
Nach jeder Türkei-Wahl entbrennt wieder die Integrationsdebatte. Dabei sind viele dieser Erdogan-Wähler gut integriert. Sie zahlen Steuern, manche von ihnen beschäftigen deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. In ihrer Heimat – Deutschland – wählen sie SPD oder CDU, FDP oder Grüne. Das gilt jedenfalls dann, wenn sie neben der türkischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft haben.
Nicht immer, aber oft genug ist die Türkei-Stimme eine Protestwahl: gegen eine Ausgrenzung in Deutschland. Denn die meisten Deutschtürken haben keine doppelte Staatsbürgerschaft. Ihre Teilhabe an Kommunalwahlen wäre ein Schritt, dieser Ausgrenzung entgegenzuwirken.
Bürgerinnen und Bürger aus anderen EU-Ländern dürfen in ihren Gemeinden mitbestimmen, wenn sie in Deutschland leben. Türkinnen und Türken ohne doppelte Staatsbürgerschaft ist das verwehrt, selbst wenn sie in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Dabei geht es nicht um Entscheidungen von bundespolitischer Relevanz, sondern um so banale Fragen wie die, wann im Heimatort die Mülltonnen geleert werden.
Rechtfertigung für Erdogan – selbst wenn sie ihn nicht gewählt haben
Die Diskussion um ihr Wahlverhalten trifft bei vielen Deutschtürken auch deswegen einen Nerv, weil sie dahinter eine Doppelmoral vermuten. Tatsächlich gab es keine nennenswerte Debatte darüber, wie viele Italienerinnen und Italiener in Deutschland die Rechtspopulistin Giorgia Meloni gewählt haben und was das für ihre Integration heißt. Türkinnen und Türken in Deutschland müssen sich dagegen immer wieder für Erdogan rechtfertigen – selbst dann, wenn sie ihn nicht gewählt haben.
Ein zweiter Reflex folgt auf jeden Erdogan-Sieg: Die Diskussion über die angestrebte EU-Mitgliedschaft des Landes flammt wieder auf, dieses Mal wieder losgetreten von der CSU. Es ist eine populistische Phantomdebatte: Die im Jahr 2005 aufgenommenen Verhandlungen liegen längst auf Eis. Nie war eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei unwahrscheinlicher als heute.
Ein offizieller Stopp des Beitrittsprozesses wäre Wasser auf die Mühlen Erdogans, zu dessen rhetorischen Lieblingsgegnern die Europäische Union gehört. Er argumentiert nicht ohne Grund, dass es die EU nie wirklich ernst mit den Verhandlungen gemeint hat. Ein Stopp wäre vor allem aber auch ein Schlag gegen die Opposition. Denn zu deren zentralen Zielen gehört es, die Türkei wieder stärker an Europa anzubinden.