Kiew/Moskau – Nach dem Vorwurf von Verrat im ukrainischen Geheimdienst greift Präsident Wolodymyr Selenskyj weiter durch und ersetzt ranghohe Mitarbeiter.
Laut einem am Dienstag veröffentlichten Dekret wurde Wolodymyr Horbenko als Vizechef des Geheimdienstes SBU entlassen. Zudem wurden in den vier Gebieten Sumy, Dnipropetrowsk, Poltawa und den Transkarpaten die Regionalchefs ausgetauscht. Außerdem entließ Selenskyj den SBU-Chef des Gebiets Schytomyr.
Am 146. Tag des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine schlug mittags eine Rakete in der ostukrainischen Stadt Kramatorsk ein, wie örtliche Behörden berichteten. „Es gibt Opfer”, schrieb Bürgermeister Oleksandr Hontscharenko auf Telegram. Die Rede war zunächst von mindestens einem Toten.
Während der russische Präsident Wladimir Putin zu Besuch in Teheran war, gab sich sein Vorgänger Dmitri Medwedew in Moskau gewiss, dass Russland den Krieg in der Ukraine gewinnen werde. In Deutschland forderte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) stärkere Anstrengungen, um den Krieg zu stoppen.
Säuberungen im ukrainischen Geheimdienst
Für den seit Ende Mai vakanten SBU-Posten im ostukrainischen Charkiw ernannte Selenskyj einen neuen Regionalchef. Der 44-jährige Präsident hat Überprüfungen in Geheimdienst und Staatsanwaltschaft angekündigt. Auslöser sei eine hohe Zahl von Überläufern und Kollaborateuren mit der russischen Besatzungsmacht nach Moskaus Einmarsch vor knapp fünf Monaten, hieß es. Nach Medienberichten stellt sich die Frage, ob bei der schnellen Eroberung der südukrainischen Gebietshauptstadt Cherson durch die Russen Verrat im Spiel war. Allein beim Geheimdienst SBU arbeiten mehr als 30.000 Menschen.
Am Sonntag hatte der ukrainische Präsident seinen Jugendfreund Iwan Bakanow als SBU-Chef gefeuert. Das Parlament in Kiew bestätigte am Dienstag dessen Entlassung genauso wie die der Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa. Es sind die ersten großen Personalwechsel, die Selenskyj während des Krieges vornimmt.
Ukraine und Russland tauschen getötete Soldaten aus
Ungeachtet der laufenden Kämpfe tauschten die Ukraine und Russland am Dienstag ein weiteres Mal getötete Soldaten aus. „Die Ukraine hat 45 ihrer Verteidiger zurückgeholt”, teilte das zuständige Ministerium in Kiew mit. Der Austausch sei nach den Normen der Genfer Konvention erfolgt. Die staatliche russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti meldete, es sei die gleiche Zahl toter russischer Soldaten zurückgegeben worden.
Die russischen Streitkräfte haben bei den Gefechten um den Donbass im Osten der Ukraine nach ukrainischen Angaben weitere Geländegewinne erzielt. „Der Feind hat im Raum Pokrowske einen Sturm durchgeführt, dabei teilweise Erfolg gehabt und setzt sich am Südrand der Ortschaft fest”, teilte der ukrainische Generalstab am Dienstagabend in seinem Lagebericht mit. Pokrowske ist eine Siedlung zehn Kilometer östlich des wichtigen Verkehrsknotenpunkts Bachmut im Gebiet Donezk. Die Linie Siwersk - Soledar - Bachmut gilt als nächste Verteidigungslinie der Ukraine vor dem Ballungsraum um die Großstädte Slowjansk und Kramatorsk.
An anderen Frontabschnitten im Donbass ist es dem ukrainischen Militär nach eigenen Angaben gelungen, die russischen Angriffe zurückzuschlagen. Sowohl nördlich von Slowjansk als auch östlich von Siwersk seien die Attacken erfolglos verlaufen. „Die ukrainischen Kämpfer haben den Okkupanten erhebliche Verluste zugefügt”, heißt es an einer Stelle im Lagebericht. Unabhängig sind die Angaben nicht zu überprüfen.
Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte in seinem Lagebericht mit, dass bei russischen Angriffen auf Odessa am Schwarzen Meer weitere Lager mit Munition aus den USA und aus europäischen Staaten vernichtet worden seien. Zerstört worden seien auch Depots in den Gebieten Donezk, Saporischschja und Dnipropetrowsk. Diese Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Die Ukraine drohte unterdessen mit Angriffen auf die Schwarzmeer-Halbinsel Krim und die dort stationierte russische Schwarzmeerflotte. „Wir bekommen Schiffsabwehrwaffen und werden früher oder später die Flotte angreifen”, sagte der stellvertretende ukrainische Verteidigungsminister Wolodymyr Hawrylow der britischen „Times” am Dienstag bei einem Besuch in London. „Russland muss die Krim verlassen, wenn es weiter als Staat bestehen will”, sagte der 64-Jährige.
Medwedew hält Westen für „politisch impotent”
Der frühere Kremlchef Medwedew zeigte sich mit Blick auf den Krieg in der Ukraine erneut siegessicher. „Russland erreicht alle gesetzten Ziele. Und es wird Frieden geben. Zu unseren Bedingungen”, schrieb der jetzige Vizechef des Sicherheitsrates im Nachrichtenkanal Telegram. Es werde keine Einigung geben zu den Bedingungen der „politisch Impotenten” in der EU und in den USA.
Einmal mehr kritisierte der frühere russische Präsident, dass die USA „unkontrolliert” Waffen in die Ukraine lieferten. „Die USA brauchen ein neues Afghanistan, zu dem nun gezielt die Ukraine gemacht wird.” Es bestehe die Gefahr, dass die Waffen in die Hände von Verbrechern auf der ganzen Welt gerieten. „Für die Terroristen und die Radikalen wird es mehr todbringende Typen von Waffentechnik geben.”
Deutsche Vermittlerrolle gefordert
Deutschland muss nach Ansicht des sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer eine Vermittlerrolle im Krieg Russlands gegen die Ukraine einnehmen. Man habe sich sehr im europäischen Verbund engagiert, müsse aber gemeinsam mit Frankreich, den USA und anderen Ländern eine zentrale Rolle bei der Lösung des Konfliktes spielen. „Wir müssen dafür eintreten, dass dieser Krieg eingefroren wird.”
Das bedeute nicht, dass die Ukraine auf Territorien verzichten solle, sagte Kretschmer. Der von Russland begonnene Krieg sei ein Unrecht und Verbrechen. Man müsse aber erkennen, dass der Krieg die Welt und Europa in besonderem Maße ins Chaos stürze. Wenn er weitergehe, drohe man die wirtschaftliche Kraft zu verlieren, die nötig sei, um die Sicherheit zu organisieren und wettbewerbsfähig zu bleiben.
Wegen der Energiekrise forderten ostdeutsche CDU-Politiker von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), auch künftig russisches Öl für die Raffinerie im brandenburgischen Schwedt zu nutzen. Das sei trotz des Öl-Embargos der EU gegen Moskau erlaubt, schrieben die wirtschaftspolitischen Sprecher der fünf Landtagsfraktionen. Habeck solle auch die Laufzeiten deutscher Atomkraftwerke verlängern, Gasfracking in Niedersachsen erlauben und die heimische Braunkohle bis 2038 statt nur bis 2030 verwenden lassen.
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