AboAbonnieren

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Lesezeit 4 Minuten

Kiew/Moskau/Berlin – Die Ukraine meldet weitere Erfolge im Kampf gegen die russischen Besatzer. In der Ostukraine seien binnen eines Tages 20 Ortschaften befreit worden, berichtete der ukrainische Generalstab am Montag. Russland will den Krieg im Nachbarland aber trotz der Rückschläge fortführen. Deutschland sieht sich unter Druck, die Ukraine gerade jetzt mit mehr schweren Waffen zu stärken. Kanzler Olaf Scholz (SPD) bekräftigte jedoch seine Linie: Artillerie und Flugabwehr ja, aber keine westlichen Kampfpanzer „im Alleingang”.

Die Ukraine hatte nach eigenen Angaben schon in den vergangenen Tagen Teile der von Russland besetzten Gebiete im Osten und Süden des Landes zurückerobert. Als schwere Niederlage Russlands gilt vor allem der von Moskau eingeräumte Rückzug aus dem Gebiet Charkiw am Wochenende. Offiziell spricht Moskau von einer strategischen „Umgruppierung” der eigenen Einheiten.

„Die militärische Spezial-Operation wird fortgesetzt”, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Montag laut Nachrichtenagentur Interfax. „Sie wird fortgesetzt, bis die anfangs gesetzten Ziele erreicht sind.” Dazu zählt die vollständige Eroberung der ostukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk - also der Regionen, wo russische Truppen nun teilweise auf dem Rückzug sind.

Ukraine will vorerst nicht mit Russland verhandeln

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte dem Sender CNN: „Unser Ziel besteht darin, unser gesamtes Gebiet zurückzuerobern.” Mit der Gegenoffensive werde man sich „langsam und schrittweise weiter nach vorne bewegen.” Auf die Frage, ob er mit Russland in Verhandlungen treten wolle, antwortete Selenskyj: „Zurzeit nicht. Ich sehe auf ihrer Seite keine Bereitschaft, konstruktiv zu sein.” Nach einem Rückzug der russischen Truppen könne das Gespräch beginnen.

Der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew reagierte mit einer Drohung: Wenn Kiew nicht zu derzeitigen Bedingungen verhandeln wolle, dann werde künftig die Forderung nach der „totalen Kapitulation des Kiewer Regimes zu Russlands Bedingungen” zählen, schrieb Medwedew auf Telegram.

Stromausfall in Charkiw

Der ukrainische Generalstab meldete am Montag: „Die Befreiung von Ortschaften unter russischer Besatzung in den Gebieten Charkiw und Donezk setzt sich fort.” Zuvor hatte es schon geheißen, russische Truppen zögen sich auch aus dem südlichen Gebiet Cherson zurück. Allerdings meldete die Ukraine russisches Bombardement auf kritische Infrastruktur, das zu Problemen bei Strom- und Wasserversorgung führte. In Charkiw fiel am Montag erneut der Strom aus.

Die Angaben der Kriegsparteien sind grundsätzlich kaum unabhängig zu überprüfen. Doch erklärte auch der britische Geheimdienst am Montag, die militärischen Erfolge der Ukraine hätten „erhebliche Folgen” für die Einsatzplanung der Russen. „Das bereits eingeschränkte Vertrauen, das die eingesetzten Truppen in die russische Militärführung haben, dürfte wahrscheinlich weiter schwinden”, hieß es in einer Mitteilung auf Twitter. Im Süden, nahe Cherson, habe Russland Schwierigkeiten, Nachschub über den Fluss Dnipro an die Front zu bringen.

Sorge um Saporischschja

Das von russischen Truppen besetzte AKW Saporischschja ist wieder an zwei Reservestromleitungen angeschlossen. So könne eine Leitung das Kühlsystem der abgeschalteten Reaktoren versorgen, die zweite sei in Reserve, teilte die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien am Montagabend mit. Der sechste und letzte Reaktor sei heruntergefahren worden und benötige nun weniger Strom zur Kühlung.

Trotzdem bleibe die Lage in und um das größte Kernkraftwerk Europas mitten im Kampfgebiet prekär, sagte IAEA-Chef Rafael Grossi der Mitteilung zufolge. Die vier Hauptleitungen seien zerstört, das Kraftwerk liefere keinen Strom. „Eine nukleare Schutz- und Sicherheitszone ist dringend erforderlich”, sagte er. Er habe darüber die ersten Konsultationen mit allen Beteiligten geführt.

Berlin will „keine Alleingänge”

Die Rückeroberungen nähren in der Ukraine Hoffnung, Russland entscheidend zu schlagen. Dafür fordert sie vom Westen rasch mehr und andere schwere Waffen, darunter westliche Kampfpanzer. In Deutschland tut sich aber vor allem die SPD damit schwer.

Bundeskanzler Scholz sagte, es bleibe dabei, „dass es keine deutschen Alleingänge gibt”. Der SPD-Politiker fügte hinzu: „Wir haben auch sehr effiziente Waffen geliefert, die gerade jetzt in dem gegenwärtigen Gefecht den Unterschied machen”. Scholz nannte den Flugabwehrpanzer Gepard, die Panzerhaubitze 2000, Mehrfachraketenwerfer und das Flugabwehrsystem Iris-T. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) betonte, noch kein Land habe Schützen- oder Kampfpanzer westlicher Bauart geliefert.

Die FDP macht jedoch Druck. „Wir müssen jeden Tag prüfen, ob wir noch mehr tun können, um ihnen in diesem Krieg beizustehen”, schrieb Parteichef Christian Lindner auf Twitter. Parteivize Johannes Vogel sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Wir sollten noch mehr schwere Waffen auch abseits des zähen Ringtausches direkt an die Ukraine liefern. Das schließt insbesondere die Panzer Marder und Fuchs ein.” Grünen-Chef Omid Nouripour sagte der „Augsburger Allgemeinen”: „Alle in der Regierung wissen indes, dass noch mehr möglich wäre.”

Russland führt seit dem 24. Februar einen Angriffskrieg gegen das Nachbarland Ukraine. Als Reaktion verhängten europäische Staaten sowie die USA beispiellose Sanktionen gegen Moskau. Der jüngste Schritt: Für Russen gilt seit Montag nicht mehr die erleichterte Visa-Vergabe für Reisen nach Deutschland und in andere Staaten des Schengen-Raums.

© dpa-infocom, dpa:220912-99-723248/10 (dpa)